Das kleine Büchlein auf meinem Schreibtisch
Es ist auf der Maturreise letzten Frühling. Ich stehe mit meinem besten Schulfreund vor dem Empfang eines Berliner Museums. Unsere Klasse besucht die Sonderausstellung "Topografie des Terrors" – sie wird uns einmal mehr Erkenntnisse über die schreckliche Lebensrealität während des NS-Regimes bringen. Und uns schockieren, durchrütteln.
Auf der Empfangstheke erspähen wir ein schlichtes kleines Büchlein. "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. 10. Dezember 1948". Den Inhalt kennen wir zwar aus dem Unterricht, aber trotzdem blättern wir es durch. Wir halten einige Sekunden inne. In diesem Moment spüren wir eine grosse Dankbarkeit dafür, was uns jene Zeilen bisher garantiert haben: Bildung, Frieden, Meinungsfreiheit. Seit sechs Jahrzehnten sollen die Menschen in modernen Staaten würdig leben. Wir stecken uns beide die kleine Broschüre ein, bevor wir uns der Zeit der Schreie und des Nazi-Grauens zuwenden.
Als ich diesen August an einem grauen Mittwochmorgen am Quartierkiosk vorbei gehe, lese ich die "Tages-Anzeiger"-Schlagzeile "Die SVP ist bereit, die Menschenrechte zu opfern." Der Satz reisst mir den Boden unter den Füssen weg. Er und das Verhalten dieser rechtskonservativen Machtpartei machen mich sprachlos. Traurig. Wütend! Ich brauche einen Moment, um meine Gedanken wieder zu ordnen.
"Das Ziel sind nicht Ergebnisse
für die Menschen, sondern Wählerprozente."
Von einer kleinen SVP-Führungsriege mit menschenfeindlichen Zügen wird die Demokratie in diesen Tagen als Deckmantel dazu benutzt, klammheimlich eine radikale Diktatur des Volkes über die Grundrechte einzuführen.
Diese Rechte waren einst dazu gedacht, Minderheiten zu schützen. Die SVP setzt mit ihrem Verhalten jedoch die absolute Grundlage unseres Zusammenlebens aufs Spiel. Das ist ihr anscheinend völlig wurscht. Sie hat den Begriff vom "fremden Recht" in den Köpfen etabliert. Dabei geht es doch nicht um "fremdes" Recht, es geht um unser aller Recht, es geht um Menschenrechte! Sie sind nicht verhandelbar, niemand darf uns diese fundamentalen Rechte nehmen. Niemand.
Dummerweise agiert die SVP, wie eine Partei agieren muss, wenn sie "erfolgreich" sein will, wenn sie die nächsten Wahlen gewinnen will. Das Ziel sind nicht Ergebnisse für die Menschen und die Gesellschaft, sondern Wählerprozente. Es graut mir vor der Aussage eines ehemaligen SVP-Nationalrates, seine Partei müsse 50,1 Prozent erreichen. Das Rezept: Politik auf Kosten einer Minderheit, die sich nicht wehren kann. Das Mittel: Probleme aufrechterhalten, bewirtschaften, statt sie konstruktiv und gemeinsam zu lösen.
Grundsätzlich bin ich aufrichtig der Meinung, dass sich alle politisch Engagierten nach bestem Wissen und Gewissen für das Gemeinwohl einsetzen. Wenn sich Stefan aus der Dorfsektion engagiert, wirkt das glaubwürdig, sogar der Oskar in der Baselbieter Kantonalpartei tut wahrscheinlich nur sein Bestes. Aber dem Christoph glaube ich es nicht mehr. Er denkt wohl selbst nicht, auf diese Art unsere Gesellschaft zu stärken. Der Dr. iur. (!) greift den Rechtsstaat an. Blocher schlägt wild um sich und versucht, so viel wie nur möglich zu zerstören, so viele Brände wie möglich zu legen. Bevor er dann für immer von dieser Welt geht.
Wenn die SVP also nun versucht, der Schweiz die Grundlage für eine freie und moderne Gesellschaft zu nehmen, wehre ich mich mit allem, was ich geben kann. Seit einem Jahr liegt das kleine Heft aus dem Berliner Museum auf meinem Bürotisch. Ich will mich nie davon trennen müssen.
25. August 2014
"Ich wünsche mir eine tabufreie Auseinandersetzung"
Was ich mir wirklich wünsche für diesen und zukünftige Fälle: Statt Betroffenheitsromantik, die den Applaus bereits auf sicher hat, eine analytische und tabufreie Auseinandersetzung mit der Frage, wer legitimiert ist, unsere Rechtsgrundlagen zu gestalten und zu revidieren. Gott ist abhanden gekommen, setzen wir gottgleiche Expertengremien an seine Stelle oder vertrauen wir der Schwarmintelligenz. Ich neige vorläufig zu letzterem, denn meiner Beobachtung nach wurden im Laufe der Menschheitsgeschichte mehr Gräueltaten von kleinen "Expertenzellen" verantwortet als von Schwärmen, sofern sie mit funktionierenden Antagonismen ausgerüstet sind. Das ist meine These und ich lasse mich gerne belehren.
Hanspeter Schürch, Waldenburg
"Nicht ganz unwichtige Akzentverschiebung"
Eine ausgezeichnete Kolumne. Eine nicht ganz unwichtige Akzentverschiebung würde ich aber vornehmen: Auch ich kenne SVP-Politiker, die sich in Gemeinde oder Kanton nach bestem Wissen und Gewissen für das Gemeinwohl einsetzen. Aber auch sie tragen die Politik der SVP-Führung mit, beziehungsweise, sie machen sie erst möglich. Was wäre Christoph Blocher ohne ein applaudierendes Publikum und ohne folgsame Parteigremien?
Hans Rebmann, Gelterkinden
"Ihre Haltung berührt mich"
Lieber Herr Koller, Ihre Haltung berührt mich. Herzlichen Dank.
Josef Jeker, Basel
"Beeinflusst von Schlagzeilen und Extremen"
Adil Koller hätte Recht und meine Unterstützung, wenn er nicht nur das "kleine Büchlein" von 1948 und eine Tagesanzeiger-Schlagzeile gelesen hätte, sondern auch die Gedanken der SVP-Arbeitsgruppe zu deren Initiative. Weiss er denn nicht, dass Zeitungen heutzutage ihr Geld nur noch verdienen können, wenn Sie möglichst polarisieren und überspitzen? Merkt er nicht, dass so die Meinungen grosser Teile unserer Gesellschaft inzwischen auch gedankenlos polarisiert sind; sieht er die Wahlerfolge der Parteien rechts und links der Mitte nicht?
Klar – als "Engagierter" für die Juso polarisiert er flott mit und fühlt sich im Recht dazu; irgendwie witzig ist schon sein Satz (Zitat): "Dummerweise agiert die SVP, wie eine Partei agieren muss, wenn sie 'erfolgreich' sein will, wenn sie die nächsten Wahlen gewinnen will." Da könnte man doch "SVP" locker durch "SP" ersetzen, oder? Bedrückend an diesem Satz ist für mich, dass er wahrscheinlich stimmt! Kann das Stimmvolk so leicht manipuliert werden, weil es nicht mehr mitdenkt, und setzt letztlich mit seinem Verhalten die "absolute Grundlage unseres Zusammenlebens" aufs Spiel? Weil es sich inzwischen nur noch von Schlagzeilen und Extremen beeinflussen lässt, weil es sich die Zeit zum Nachdenken nicht mehr nehmen will?
Peter Waldner, Basel
"Ich hoffe sehr ..."
Ich hoffe sehr, dass noch sehr viele Schweizerinnen und Schweizer auch so ein kleines Büchlein irgendwo zu Hause liegen haben.
Dieter Isch, Bottmingen
"Nagel auf den Kopf getroffen"
Danke für Ihren Beitrag. Sie haben mit Ihrem Artikel "Das kleine Büchlein auf meinem Schreibtisch" den Nagel auf den Kopf getroffen. Das gibt mir Hoffnung, endlich wieder mehr intelligente Stimmen aus der politischen Linken zu hören.
Stephan Kalt, Basel
"Klare und deutliche Stellungnahme"
Eine so klare und deutliche Stellungnahme gegen Blochers menschenverachtende Vorhaben habe ich noch in keiner Zeitung gelesen. Warum eigentlich -?
Ernst Feurer, Birel-Benken