Der Engel meiner Kindheit
Kennen Sie den sommerlichen Duft von frischem Lavendel? Woran erinnert er Sie?
Mich erinnert er an meine Grossmutter. Ihr wunderbar blühender Garten duftete nach Lavendel. Einmal erzähle mir meine Grossmutter von einer zufälligen Bekanntschaft, die ihren Garten als den schönsten des ganzen Dorfes lobte. Sie war sichtlich stolz.
Dort spielen sich einige meiner wachsten Erinnerungen an meine frühe Kindheit ab, in diesem Dorf, in dem ich so viele Sommermonate verbrachte. Der Duft von Lavendel und getrocknetem Gras vermischte sich im Wind zu einer frischen, sommerlichen Brise.
Neben dem kleinen Holzhaus in den Walliser Bergen lag eine grosse Wiese am Hang. Ich erinnere mich noch gut, wie ich darauf herumtobte und meine damals etwa 60-jährige Grossmutter an ihrem Rock zog, sie möge doch mit mir den Hang herunter rollen. Sie lachte.
Als kleines Kind hütete mich meine Grossmutter, wenn meine Mutter arbeiten musste. Für mich, schon ganz früh ein Scheidungskind, war Grand-maman der Engel meiner Kindheit. Ein lebensfrohes, glückliches Wesen, das auf mich aufpasste und mir körperlich nahe stand.
"Sie drückte mich an sich,
als wäre es das letzte Mal. Das zerriss mich."
Viele Jahre später während meines Austauschjahres auf der anderen Seite des Ozeans, vermisste ich meine Grossmutter. Ich vermisste sie, den Garten und das Haus in den Bergen, diesen feinen Duft.
Bei meiner Verabschiedung schien sie mir müde und erschöpft. Sie drückte mich an sich, als wäre es das letzte Mal. Das zerriss mich.
Im Laufe des Jahres wurde ihre Herzkrankheit schlimmer. Wir hatten viel Briefkontakt und schrieben über früher, eine schöne Zeit. Ich schrieb ihr, dass mein Traum sei, sie noch einmal zu umarmen.
Ich glaube, sie hat auf mich gewartet. Zwei Monate nach meiner Rückkehr, zwei Monate nach der ersten Umarmung seit langem, hörte ihr Herz auf zu schlagen.
Diesen Frühling besuchte ich zum ersten Mal seit langer Zeit dieses kleine Haus in den Bergen. Es beherbergt für mich so viele Erinnerungen, mir war, als hätte meine Grossmutter hier ihren Frieden gefunden. Ihre Asche liegt unter den blühenden Kirschenbäumen neben dem Haus.
Als ich auf der Suche nach frischer Bettwäsche den Schrank öffne, schwebt mir ein vertrauter Duft entgegen. Meine Grossmutter hatte zum Schutz vor Schädlingen ein altes Hausmittel verwendet: Lavendel.
An diesem Duft haftet meine ganze Kindheit.
21. April 2014
"Sehr gefreut"
Lieber Adil Koller, das war die schönste und gehaltvollste Kolumne, die Sie bisher hier geschrieben haben. Und da ich mich so sehr darüber gefreut habe und wie Sie den Duft von Lavendel sehr liebe, teils, weil er auch im Garten meiner Grossmutter, bei der ich auch mit meinen zwei Brüdern grösstenteils aufwuchs, blühte und duftete, teils, weil ich seit einiger Zeit jeden Frühling unbedingt einen blühenden Lavendelstock kaufe und vor mein Küchenfenster stelle, bis ich dann im Herbst die Blüten abzupfe und – wenn ich genug davon gesammelt habe – kleine Lavendelsäckli draus mache, die ich einem lieben Menschen dann zu Weihnachten schenke, da ich selbst schon genügend solcher Duftsäckchen in meinem Kleider- und Wäscheschrank habe.
Am liebsten würde ich Ihnen jetzt einen solchen schön blühenden Lavendelstock schenken, was aber etwas umständlich wäre. Kaufen Sie sich doch selbst einen für vor das Küchenfenster (sie sind bei Migros oder Coop nicht so teuer und jetzt vorhanden). Und wenn Sie das nächste Mal im Wallis in Ihrem Dorf sind, stellen Sie doch einen Lavendelstock aufs Grab Ihrer Grossmutter, wenn es ein solches gibt, denn sie sind winterhart und kommen jeweils im darauffolgenden Jahr wieder, wenn auch nicht so schön wie im ersten Jahr.
Christine Radanowicz, Zürich
"Tief berührt"
Lieber Herr Koller, für ihre wunderschöne Kolumne "Der Engel meiner Kindheit" möchte ich ihnen herzlich danken. Als kleine Geste schicke ich Ihnen diese Blütenpracht, die Kraft eines Frühlings, der alles aufbrechen lässt! Ihre poetische Schilderung hat mich als Grossmutter tief berührt, denn ich erlebe mit meinen sechs Enkelkinder Verwandtes und das ist mein spätes, aber grösstes und stillstes Glück.
Alicia Soiron, Basel