Willkommen in der neuen Zweitschweiz
Ungefähr viermal jährlich, genau gesagt jeweils nach den Abstimmungs-Sonntagen, muss ich mich gewöhnlich zuerst erholen. Weniger vom Ausgang, der nicht zur Diskussion steht, als von den ins Feld geführten Argumenten für oder gegen die Vorlagen. Auch die finanziellen Mittel, die im Abstimmungskampf eingesetzt werden und etwas über die involvierten Interessen aussagen, geben zu denken.
Aber reden wir von den verwendeten Argumenten, zum Beispiel bei der Abstimmung über die Einheits-Krankenkasse. Es war ein Sturm, der am Horizont aufzog. Keine Staatsmedizin! Keine Bevormundung! Seit wann können demokratische Entscheidungen an der Urne eine Bevormundung zur Folge haben? Das war etwas Neues.
Überhaupt das Niveau bei den Parlamentsdebatten! Als kürzlich strengere Vorschriften für den Ressourcenverbrauch und eine bitte ein bisschen ökologischere Einstellung in der Wirtschaft zur Diskussion standen, meinte ein sogenannter Volksvertreter sinngemäss: "Wir können uns keine für die Umwelt perfektesten Lösungen leisten, weil schlicht und einfach das Geld fehlt." Hätte er gesagt: Die kommenden Generationen sollen unsere Hinterlassenschaft aufräumen, wäre es ehrlicher gewesen.
Ein äusserst beliebtes Argument, um politische Stimmung zu machen, ist stets der Einwand der Überregulierung. Dabei sitzt uns allen seit der Finanzkrise von 2007-08 immer noch in den Knochen, was De- oder Unterregulierung nach sich ziehen kann. Ungenügende oder vermiedene Regulierung führt in die Unordnung.
Mit Regulierung sind eigentlich Ordnung und optimale Organisation gemeint, die zu gesellschaftlich zweckmässigen und ökonomisch vorteilhaften Verhältnissen führen. Ein Bahnverkehr mit dereguliertem Fahrplan? Das doch lieber nicht. Wenn die Schweiz weitherum als Erfolgsmodell betrachtet wird, dann hat die angebliche Überregulierung wesentlich dazu beigetragen. Nur wenn es um die Wurst geht, das heisst in der Schweiz um die Bratwurst, verhält es sich genau umgekehrtund muss nachreguliert werden.
"Politik ist in der Schweiz
die Nationalisierung selektiver Interessen."
Schwerer hat es da schon die Warendeklaration. Wenn sie verhindert werden soll, geschieht es meistens mit dem Hinweis auf den mündigen Bürger als aufgeklärten demokratischen Prototypen, der jedoch seine Mündigkeit nur erlangen kann, wenn ihm die nötigen Informationen zur Verfügung stehen.
Der Wille zur Information hat viel mit Volkswillen zu tun und sollte als Volksrecht verstanden werden. Im politischen Alltag ist dieser viel berufene Volkswille aber meistens nur ein rhetorisches Versatzstück auf einer niedrigen Stufe der Debattierkultur. Auch wird er nur aus dem untersten Schubladenfach der Sprachkompetenz hervorgeholt, wenn es gerade passt. Sonst kaum.
Als die welschen Kantone nach der Abstimmung über die Einheitskasse sich neue Modelle überlegten, war umgehend von Zwängerei die Rede. Als dagegen das Parlament trotz Alpenschutz kürzlich die zweite Gotthardröhre beschloss, war weder von Zwängerei noch Volkswillen etwas zu hören. Auch bei den Zweitwohnungen, wo Ausnahmen und Auswege erfunden werden, um die Umsetzung der Initiative zu hintertreiben, keinerlei Widerspruch. Aufschlussreich ist dafür, dass beide Themen von der gleichen Bundesrätin betreut werden, die uns mit sanftem Augenaufschlag in die negative Realität der Zweitschweiz führen will, in die Schweiz, die nach ihrer Vermarktung übrig bleibt.
Bei den Zweitwohnungen kommt mir regelmässig die Frage in den Sinn, wem die Schweiz eigentlich gehört. Den Baulandbesitzern? Den Investoren? Der Tourismusindustrie? Es ist eine Frage, ob die nur zehn bis vierzehn Tage im Jahr geöffneten Fensterläden die Hochgebirgsdörfer attraktiv machen? Vielleicht wecken die alpinen Ghosttowns aber den Verdacht von steueroptimierten Geldanlagen.
Um neue Märkte in China, Indien und dem Nahen Osten zu erschliessen, werden die Alpen möbliert und in ein Wintermärchen verwandelt. Mit den Schönen und Reichen kommen auch die Köche und Zimmermädchen, weil die Schweiz das angestrebte Wachstum gar nicht selbst aufbringen kann, sondern importieren muss. Zum Beispiel, wenn das Hirtenland in eine Luxuszone für superspendable Gäste aus aller Welt umgebaut wird. Im Sommer stehen die Skianlagen wie nicht abgeholter Sperrmüll in der Landschaft, die letzten unberührten Täler sollen in Stauseen ertränkt werden. Voilà la Suisse.
Politik ist in der Schweiz die Objektivierung und Nationalisierung selektiver Interessen. Gelingt es, diese als Dienst am Volk glaubhaft zu machen, ist der Deal perfekt. Nur leider wird Politik auf diese Weise zur Simulation des Volkswillens, siehe oben.
Da wir schon von Steueroptimierung sprechen, die in der Zweit- und Simulationsschweiz ein populäres Thema ist. Ich will den Fall Schneider-Ammann nicht aufwärmen. Er ist peinlich genug, weniger für den magistralen Optimierter selbst als für die Schweiz überhaupt. Dass alles Normalfall und Ruling gewesen, alles mit rechten Dingen zugegangen sein soll – das genau ist der eigentliche Skandal.
Abgesehen davon erregt unser Geri noch immer mehr Aufmerksamkeit als unser Johann. Müller und Schneider – fast sind das Figuren aus dem Casting eines Grimm'schen Märchens, nur transponiert in das Zeitalter der mediatisierten Öffentlichkeit.
6. Oktober 2014
Ein weiteres aktuelle Beispiel"
Wie immer ausgezeichneter Kommentar von Aurel Schmidt! Mir fällt dazu spontan noch ein aktuelles Beispiel ein: Der Bündner Gewerbeverband will die Kandidatur für die Winterolympiade 2022 wieder thematisieren - und dies, obwohl das Stimmvolk nein gesagt hat.
Ist diese Art der Zwängerei ein neue(re)s Phänomen? Hat die SVP mit ihrer Heiligsprechung des Volkswillens dazu beigetragen, dass man halt das Volk so lange befragt, bis die Antwort herauskommt, die der Wirtschaft oder einzelnen Lobbys und Verbänden, die das grosse Geschäft wittern, genehm ist? Oder bis "s Volkch", von der Dauerpropaganda entweder verwirrt oder zermürbt, endlich einsieht, was das Beste für dieses Land ist, und seinen zuerst bekundeten Willen widerruft und seine Meinung um 180 Grad ändert? Sind es die sogenannten Wahlbarometer der Meinungsforschungsinstitute, die mit ihren Umfragen Urnengänge bald überflüssig machen (Simulationsschweiz!), auf jeden Fall aber beeinflussen? Oder liegt es einfach in der Natur der direkten Demokratie, dass man über die gleiche Sachfrage in immer wieder neuem Gewand abstimmen lassen kann? Ich bin in dieser Frage noch zu keiner schlüssigen Antwort gekommen, vielleicht ist es auch eine Mischung von beidem: Theoretisch ist diese Möglichkeit der "Abstimmungswiederholungen à gogo" zwar nicht neu, aber erst in der letzten Zeit wird sie voll ausgenützt. Stellt sich nur die Frage, warum.
Und wenn die sogenannten Volksvertreter, wie im Fall der zweiten Gotthardröhre und der Zweitwohnungsinitiative, sich um Abstimmungsergebnisse foutieren, dann offenbaren sie einfach ihre wahren Gesichter: Sie vertreten nicht das Volk, sondern eine Lobby und deren Partikularinteressen. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Aber seien wir ehrlich: Wären wir nicht auch manchmal froh, wenn eben diese Volksvertreter extreme Abstimmungsresultate korrigieren (zum Beispiel Masseneinwanderungsinitiative) würden?
Gaby Burgermeister, Basel