Die Sitzbank als gemeine Fingerfalle
Der Basler Kannenfeldpark war für uns Kinder, wenn wir bei unseren gleich neben dem Park wohnenden Grosseltern weilten, ein Paradies. Wir wurden zwar immer wieder belehrt, dass an dieser Stelle früher ein Friedhof war, wo sogar auch Vorfahren von uns ihre letzte Ruhe gefunden haben sollen. Dies hinderte uns allerdings keineswegs daran, dort Versteggis zu spielen und uns hinter einem der wenigen noch vorhandenen Grabsteinen zu verstecken.
Speziell attraktiv war der Park für uns in der Dämmerung, wenn wir uns auf einen der Grabsteine setzten und einander Gruselgeschichten erzählten: über Sargdeckel, die sich plötzlich anhoben, und Skelette, die um Mitternacht herumgeistern.
Der Park war ansonsten vor allem am Tag beliebt. Am Vormittag für einen Morgenspaziergang von Kindergarten-Kindern mit ihren Betreuerinnen. Am Nachmittag waren es eher ältere Leute, die aufmarschierten. Darunter mein Grossvater, in der einen Hand die Zeitung, an der anderen ein Bub. Das war mein Bruder. Er ging zwar nicht gerne mit dem Grossvater in den Park, denn unter dessen gestrenger Überwachung musste er sich wohl oder übel an die Parkregeln halten. Nichts mit Fussballspielen, nichts mit Leute anspritzen am Brunnen, allenfalls ein bisschen mit dem Ball spielen, aber allein war das nur das halbe Vergnügen.
"Diese Löcher in der Bank sollten meinem Bruder zum Verhängnis werden."
Er wusste also schon im vornherein, dass es langweilig werden würde. Der Grossvater pflegte nämlich die Gewohnheit, auf einer der Parkbänke die Zeitung zu lesen, die er von zu Haus mitbrachte. Oder am Kiosk kaufte, was mein Bruder vorzog, weil dabei immer noch ein Schleckstengel für ihn anfiel. Diesen schlotzte er neben dem Grossvater auf der Bank, liess die Beine baumeln und langweilte sich. Die Sitzbänke waren damals nicht aus Holz, sondern aus Metall. Und damit das Regenwasser abfliessen konnte und niemand sich einen nassen Hosenboden holte, waren sie mit Löchern versehen.
Diese Löcher sollten meinem Bruder zum Verhängnis werden. Er kam nämlich auf die fatale Idee, auszuprobieren ob – und wenn ja, wie weit – es ihm gelingen würde, seinem Zeigfinger in eines der Löcher zu stecken. Das "ob" war schnell klar. Nur sind Finger an den Spitzen bekanntlich am dünnsten und nehmen wurzelwärts an Umfang zu.
Man ahnt, was folgt. Er bekam den Finger nicht mehr au dem Loch heraus, so sehr er auch zog und zerrte. Was natürlich kontraproduktiv war, denn davon schwoll der Finger immer mehr an.
Als der Grossvater die Zeitung zusammen faltete und aufstand war die Stunde der Wahrheit gekommen. "Los, steh auf, wir gehen" sagte er. "Ich kann nicht, ich bekomme den Finger nicht aus dem Loch!" jammerte mein Bruder. "Dann müssen wir halt die Bank mit nach Hause nehmen", sagte der Grossvater. Das war natürlich nicht ernst gemeint. Vielmehr machte er sich kurzerhand auf den Heimweg, um eine Metallfeile zu holen, während mein Bruder notgedrungen auf der Bank sitzen blieb und inständig hoffte, dass kein Parkbesucher die Bank mit ihm teilen wollte und ihn womöglich noch aufforderte, zur Seite zu rutschen.
Als der Grossvater nach einer gefühlten Ewigkeit mit der Feile eintraf, war das Leiden aber noch nicht beendet, im Gegenteil. Mein Bruder hatte inzwischen nämlich immer wieder versucht, den Finger aus dem Loch zu bekommen, mit der Folge, dass dieser noch weiter aufschwoll. Zudem erhitzte sich durch das Feilen das Metall rund um das Loch mit dem Finger, weshalb die Operation mehrmals zur Auskühlung unterbrochen werden musste.
Zum Glück war wenige Schritte entfernt ein Brunnen. Mangels eines adäquaten Gefässes brauchte der Grossvater seinen Hut für den Wassertransport. Die "Befreiung" gelang schliesslich trotz allen Imponderabilien, und die beiden machten sich auf den Heimweg. Beim "Glacé-Männli" am Parkausgang bekam mein Bruder zum Trost ein Eis am Stiel. Es diente ihm abwechslungsweise zum Lutschen und zum Kühlen seines Fingers.
22. Dezember 2014
"Kommt mir bekannt vor"
Das kommt mir alles sehr bekannt vor. Gut beschrieben.
Georg Schnell, Laufen
"Peoplestory von guter Art"
Eine peoplestory von guter Art. Der Alltag von uns kleinen Leuten ist oftmals spannender als der der Blaublütigen, Heissblütigen und Nackedeis und Nackedösen.
Xaver Pfister, Basel