Adolescence – wir müssen hinschauen!
Selten hat mich eine Serie so beeindruckt wie der aktuelle Kassenschlager auf Netflix. «Adolescence» hat mich mitgenommen, tagelang beschäftigt und nachdenklich gestimmt. Der Vierteiler ist nicht nur inhaltlich spannend und anregend, sondern auch vom ganzen Setting her einfach phänomenal: Die Serie überzeugt von der schauspielerischen Leistung bis hin zum Drehbuch auf der ganzen Linie. Zehn von zehn Punkten!
Es geht in der Serie um den Mord an einem Mädchen, mutmasslich verübt von einem 13-jährigen Jungen. Dabei steht nicht die Frage «Wer war es?» im Zentrum. Vielmehr interessiert: «Warum hat er das getan?». Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten.
Die Antwort verteilt sich auf mehrere Ebenen, ist vielschichtig. Kurzantworten wären vielleicht: Der Junge wurde mit seinen Emotionen allein gelassen und dem im Internet erlernten Frauenhass überlassen. Das Schulsystem hat versagt. Die Eltern haben zu wenig hingeschaut. Die Gesellschaft hat sich zu wenig um ihn gekümmert. Die Hauptmessage, die ich deshalb für mich mitgenommen habe, lautet: Wir müssen hinschauen, wir müssen uns um Jugendliche kümmern und darüber sprechen. Aber worüber genau?
Zum Beispiel über die sogenannte Manosphere, in die sich der Junge in der Serie zurückgezogen hat. Der Begriff steht für ein loses Netzwerk im Internet, das frauenfeindliche Einstellungen verbreitet. Dazu gehören YouTube-Influencer, die jungen Männern erklären, dass Feminismus sie schwächt, Foren, in denen Frauen als Ursache aller männlichen Probleme dargestellt werden, und Gruppierungen wie die „Incels“, die Gewalt gegen Frauen glorifizieren.
Was heisst Mann-Sein heutzutage? Wie gross ist der Spielraum?
Diese Räume bieten vielen verunsicherten Jungen und Männern vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Probleme – auf Kosten von Frauen, queeren Menschen und dem gesellschaftlichem Zusammenhalt. Im Zentrum dieser Ideologie steht aber nicht nur Frauenfeindlichkeit, sondern auch eine bestimmte Form von Männlichkeit, die als einzige wahre und richtige Männlichkeit dargestellt wird.
Und schon befinden wir uns mitten in einer sehr grundlegenden gesellschaftlichen Fragestellung. Was heisst Mann-Sein heutzutage? Wie gross ist der Spielraum?
Meine These ist: Während Frauen heute zwischen Karriere und Care-Arbeit, zwischen Softness und Durchsetzungsstärke navigieren dürfen und eine Vielfalt an unterschiedlichen weiblichen Lebensentwürfen existieren, gibt es für Männer weniger Optionen. Sie stehen vor einer Entweder-oder-Logik: stark oder schwach, Alpha oder Loser. Verletzlichkeit bleibt tabu. Wut wird weiterhin als männliche Emotion akzeptiert, während Ohnmacht, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Einsamkeit – die oft hinter der nach aussen präsentierten Wut liegen – verdrängt werden. Doch genau diese unreflektierte Wut staut sich auf, bis sie sich irgendwann entlädt – und andere trifft.
Der Lern- und Reflexionsprozess des Vaters am Schluss macht Hoffnung.
Wer die Serie schaut, kann in der dritten phänomenalen Folge im Dialog des Jungen mit der Therapeutin genau beobachten, wie seine Hilflosigkeit in Wut kippt und sich entlädt. Vor der herzbrechenden Art und Weise, wie der Vater in der vierten Folge versucht, seine eigenen Emotionen zu unterdrücken, wirkt das Verhalten des Jungen auf traurige Weise logisch. Ein Vorbild im konstruktiven Umgang mit eigenen Emotionen und Unsicherheiten hat dem Buben wohl als Kind gefehlt. Wobei beim Vater am Schluss ein Lern- und Reflektionsprozess zu beobachten ist, der Hoffnung macht.
Es gibt ja auch positive Gegenbeispiele: Männer, die sich aktiv für eine vielfältige Definition von Männlichkeit einsetzen. Bewegungen wie „männer.ch“ zeigen, dass Fürsorge, Reflexion und Stärke sich nicht ausschliessen müssen. Dass beim heutigen Mann-Sein Verletzlichkeit und emotionale Kompetenz genauso Platz haben wie Kraft und Entschlossenheit. Leider sind solche Angebote im Vergleich zur Manosphere nicht so sichtbar.
«Adolescence» hat nun aber alle Rekorde von Netflix übertroffen. Noch nie wurde eine Serie in so kurzer Zeit von so vielen Menschen geschaut. Ich bin überzeugt, dass ich nicht die einzige war, die von der Serie angeregt wurde und nun genauer hinsehen will. Mir gibt diese Serie deshalb Hoffnung, und davon brauche ich aktuell mehr denn je.