Schnappatmung am ESC
Die Kolumnistin hält den Musik-Event im Vergleich zu anderen grossen kulturellen Basler Anlässen für bemerkenswert progressiv: «Das schläckt käi Gäiss wäg!»
Der Eurovision Song Contest in Basel-Stadt brachte – wie mein Kolumnen-Kollege Max Kaufmann richtig festhielt – einige Widersprüchlichkeiten und Heuchlerisches mit sich. Das Mantra, der ESC sei unpolitisch, ist hanebüchen. Ob es jemals einen widerspruchsfreien internationalen Grossevent geben wird, sei dahingestellt.
Trotzdem: Im Vergleich zu anderen grossen kulturellen Basler Anlässen war diese Veranstaltung bemerkenswert progressiv. Das schläckt käi Gäiss wäg, und das sollte vor allem auch aus linker, progressiver Sicht anerkannt und gefeiert werden.
Ich habs ämmel gefeiert. Es war ein gutes Fest. Eines, an dem Vielfalt, Toleranz und queere Kultur sichtbar und selbstbewusst gelebt wurden. Und ja, ich war für einmal sogar ein bisschen lokalpatriotisch – eine Emotion, die mir sonst fernliegt.
Basel als Gastgeberin eines Events, der wie kaum ein anderer für europäische Offenheit steht. Das erfüllt mein Herz mit Stolz. Und eigentlich passt das ja auch zu unserem Kanton. Schliesslich haben wir hier aktuell das weltweit progressivste Gleichstellungsgesetz, das nicht nur Mann und Frau, sondern alle Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen einschliesst.
Ich hatte das Privileg, bei beiden Halbfinalen in der St. Jakobshalle dabei sein zu dürfen. Nicht nur die Show, die ich seit 14 Jahren jedes Jahr im Fernsehen schaue, live zu erleben, war überwältigend. Vor allem die ESC-Fans, die ich vor Ort sehen durfte, haben mich beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, dass dort viele Menschen so sein konnten, wie sie sind, und sich nicht hinter Norm-Fassaden verstecken mussten.
Der ESC ist möglicherweise sogar ein Ort, an dem die Norm queer ist.
Als nicht-queere Person werde ich wohl nie ganz genau wissen, wie es sich anfühlt, als homosexuelle, nonbinäre oder trans Person in einer immer noch sehr queerfeindlichen Gesellschaft zu leben. Aber ich kann mir vorstellen, dass es an anderen Basler Grossanlässen wie beispielsweise der Fasnacht nicht so angenehm ist. Das ist keine Fundamentalkritik an den drei scheenschte Dääg. Ich spiele seit drei Jahren Piccolo, weil ich Fasnacht auch ein tolles Fest finde, bei dem die ganze Stadt zusammen musiziert. Aber eben: Im Vergleich zum ESC kann sie noch einiges an Progressivität zulegen, no offense. Und auch das Joggeli ist bei einem gut besuchten FCB-Match sicherlich kein safer space für queere Personen – im Gegensatz zum ausverkauften ESC in der St. Jakobshalle.
Der ESC ist möglicherweise sogar ein Ort, an dem die Norm queer ist. Und zwar dieses Jahr mit über 166 Millionen Fernseh-Zuschauenden. Das ist ausserordentlich und sollten wir feiern. Auch wenn der eine oder andere Song katastrophal, mancher Act sehr stereotyp und rund herum vieles heuchlerisch und kommerzialisiert ist. Und auch wenn Basels Kunstmesse neu Katars Queerfeindlichkeit und Misogynie relativiert – was für ein Armutszeugnis für unsere Stadt! Ambiguitätstoleranz (mein Lieblingswort!) ist wohl auch hier gefragt.
Ich bin auf jeden Fall überzeugt: Gelebte Diversität sorgt dafür, dass gesellschaftliche Normen nicht zu eng werden. Diversität schafft Raum zum Atmen, und diese Freiheit kommt letztlich allen zugute. Auch denen, die bei Nemos zweitem Auftritt in Schnappatmung verfallen sind.