Schweiz: Die Zeit der Nabelschau ist passé
Der Kolumnist ruft dazu auf, vorbereitet zu sein – um nicht wie jüngst bei Trumps Zöllen auf dem falschen Fuss erwischt zu werden.
In den 1980er-Jahren studierte ich in Basel Jurisprudenz. Die Professoren Vischer, Simonius, Spiro und Fuchs versuchten, uns das 2000-jährige Gerüst des auf Rom zurückgehenden Privatrechts zu vermitteln. Im Staatsrecht brachte uns Professor Eichenberger das auf Föderalismus, Gewaltenteilung, Kollegialität und direktdemokratische Beteiligung gestützte, solide Schweizer System nahe. Professor Rhinow bemühte sich, in die von Beharrlichkeit geprägte Verwaltung mehr Prozesstreue und Rechtsgleichheit hineinzubringen.
Im Kollegiengebäude betrieb die organisierte Studentenschaft einen schon damals aus der Zeit gefallenen Shop mit bunten Stiften und Notizblöcken. Studierende verfassten Resolutionen zugunsten des sozialistisch-revolutionären Nicaragua und verkauften Solidaritätsbananen. Im universitären Zeitungsständer fand sich das Organ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands mit einer sterbenslangweiligen Hymne auf die Übererfüllung des landwirtschaftlichen Fünfjahresplans in der DDR.
Das Völkerrecht fristete ein Stiefmütterchen-Dasein. Professor Luzius Wildhaber, später auch Franz Blankhart und Stephan Breitenmoser, wirkten dem nach Kräften entgegen. Schweizer Aussenpolitik, so eine verbreitete Meinung, funktioniere gut, wenn man nicht darüber rede. Neutralität war damals fast ein Synonym von Aussen- und Sicherheitspolitik. Dabei ignorierten Politikerinnen und Politiker von links bis rechts, wie sehr die Schweiz von der Nato profitierte. Neutralität reicht, hiess es von rechts. Armee abschaffen, Peace!, skandierte die Linke.
Wir schlüpften unter den Nato-Schutzschirm wie der Knabe, der sich an den Arm der Mutter hängt, um dem Regen zu entgehen. Das war bequem. Genauso bequem war es, zuzuschauen, ob die Europäische Gemeinschaft zum Fliegen kommt. Fehler machten andere, nicht wir. Wer sich nicht bewegt, läuft nicht in die falsche Richtung.
Wer hätte sich damals vorgestellt, dass uns ein amerikanischer Präsident einen 39-Prozent-Zollhammer über den Kopf zieht? Dass die USA erwägen, Grönland gegen den Willen Dänemarks und der lokalen Bevölkerung zu übernehmen? Wer dachte, dass ein diktatorischer Führer in Moskau mit Hunderttausenden Soldaten in Europa einen Angriffskrieg vom Zaun bricht, grosse Teile eines Nachbarlandes annektiert und dafür von Parteien, Philosophen und Journalisten in Deutschland und der Schweiz auch noch Verständnis erntet?
Die Medien überboten sich mit Spekulationen, wer auf Schweizer Seite verantwortlich sein könnte für Trumps Zölle. Bundespräsidentin Keller-Sutter am Telefon? Das Departement Parmelin neben dem Telefon?
Dass Passivität keine langfristig erfolgreiche Strategie für uns sein kann, ist seit Längerem klar. Schon 1991 standen schiessende jugoslawische Panzer an Österreichs Südgrenze. Reaktion? Wir liessen unsere Armee verlottern. Es gab den massiven Druck der USA, die unrühmliche Geschichte der nachrichtenlosen Vermögen (1990er) aufzuarbeiten und das Bankgeheimnis aufzuheben (2000er). Wir wurden voll auf dem falschen Fuss erwischt. Konsequenz? Wir liessen uns erneut überraschen, als Putin im Februar 2022 seinen brutalen Krieg lostrat und die EU Sanktionen ergriff.
Die Medien überboten sich mit Spekulationen, wer auf Schweizer Seite verantwortlich sein könnte für Trumps Zölle. Bundespräsidentin Keller-Sutter am Telefon? Das Departement Parmelin neben dem Telefon? Die Bundesräte Jans oder Cassis mit Mitberichten? Man müsse Gianni Infantino holen, hiess es. Absurd.
Die Beziehungen zwischen den Staaten sind massiv in Bewegung geraten. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen. Nein, Neutralität allein schützt nicht, wenn Diktatoren skrupellos das Völkerrecht brechen, auf dem das Neutralitätsrecht beruht. Nein, das Schicksal unserer Nachbarn darf uns nicht egal sein. Nicht nur, weil wir grundlegende Werte mit ihnen teilen. Sondern auch, weil die Annahme, sie verstünden schon, dass wir sie nicht unterstützen können, sie der Schweiz aber beispringen müssen, wenn es brenzlig wird, grenzenlos naiv ist.
Löwen in Reisslaune verschonen Vogel Strauss nicht, auch wenn er seinen Kopf tief in die Erde steckt. Die Zeit der schweizerischen Nabelschau ist passé.