Kolumne: «Mit links»

Was machen wir mit den Tätern von sexualisierter Gewalt?

Die Kolumnistin ist gegen einen sozialen Ausschluss. Stattdessen sollen Straffällige sich aktiv mit ihren Taten auseinandersetzen und Verantwortung übernehmen.

Sexualisierte Gewalt
Für viele Opfer ist restaurative Justiz heilsamer als strafrechtliche Sanktionen. (Foto: ZVG)

Diese Kolumne erscheint kurz vor Weihnachten. Ich möchte deshalb über Heilung sprechen und darüber, wie wir mit Tätern von sexualisierter Gewalt umgehen. Vielleicht fragen sie sich nun, was das eine mit dem anderen zu tun hat? 

Zuerst aber noch eine Randbemerkung: Der Text ist richtig gegendert, auch wenn die weibliche Form nicht vorkommt. Es geht um Täter von sexualisierter Gewalt, und das sind mehrheitlich Männer.

Sexualisierte Gewalt beschäftigt mich immer wieder. Ich habe früher beruflich mehrere Fälle im Rahmen eines Case Managements begleitet. Jeder einzelne Fall war schmerzhaft und hinterliess bei allen Opfern tiefe Spuren. Erfreulicherweise wird das Thema heute breiter diskutiert. Die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» hat landesweit zahlreiche Aktionen ausgelöst. Der Regierungsrat Basel-Stadt hat beschlossen, die Präventionsmassnahmen gegen sexualisierte Gewalt an Schulen auszubauen, und der Grosse Rat hat sich für die Kampagne «Halt Gewalt» ausgesprochen. 

Jüngst wollte der Nationalrat zunächst das Präventionsbudget gegen Gewalt an Frauen nicht erhöhen. Das führte dann aber dazu, dass die SP Frauen innert weniger Tage eine Petition mit einer halben Million Unterschriften (!) einreichten. Als Reaktion darauf stimmte der Ständerat am vergangenen Mittwoch der Erhöhung zu. Am Montag entscheidet der Nationalrat erneut. Wir sind gespannt.

Es ist aber offensichtlich: Dieses Thema bewegt nicht nur mich. Es bewegt viele Menschen. Im aktuellen Diskurs kommt aber eine grundlegende Frage zu kurz: Was machen wir mit den Tätern? 

Je mehr über Gewalt gesprochen wird, desto mehr Fälle kommen ans Licht – in Organisationen, Unternehmen, Schulen, Vereinen, Familien und in Freundeskreisen. Überall, wo Menschen zusammenkommen. Es beschäftigt deshalb auch immer mehr Menschen, was im Falle eines Gewaltvorfalls zu tun ist. Vorneweg: Opferschutz steht immer an erster Stelle. Auch im Umgang mit Opfern gibt es einiges zu beachten.

Opfer sollen nicht zusätzlich verletzt oder belastet werden.

In dieser Kolumne will ich aber für einmal über den Umgang mit Tätern sprechen. Denn einen Täter gibt es immer.  Und wie wir mit ihnen umgehen, hat einen direkten Einfluss darauf, ob das Risiko für weitere Vorfälle steigt oder sinkt und ob Lernprozesse bei Tatpersonen angestossen werden, oder eben nicht. 

Man könnte nun entgegnen, dass für die Täter das Justizsystem zuständig ist. Nur leider reagiert das Sexualstrafrecht und allgemein unser Justizsystem weiterhin schwerfällig und unbefriedigend auf dieses gesellschaftliche Problem. Dadurch entsteht ein Vakuum, das Teams, Vereine oder Organisationen faktisch dazu bringt, selbst schnell zu handeln. Und deshalb ist es wichtig, dass wir uns alle mit dem Umgang mit Tätern auseinandersetzen.

Die Fälle, von denen ich gehört oder die ich begleitet habe, lösten bei allen Beteiligten massive emotionale und organisatorische Überforderung aus. Verständlicherweise.

Meine Beobachtung ist, dass diese Überforderung meistens zu zwei Reaktionen führt: Entweder man ignoriert die Fälle, was inakzeptabel ist. Oder die Täter werden verurteilt, sozial geächtet und ausgeschlossen. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch wichtig, um eben die Opfer nicht einer weiteren Konfrontation mit den Tätern aussetzen zu müssen. Opfer sollen nicht zusätzlich verletzt oder belastet werden, indem sie zum Beispiel weiterhin mit Tätern denselben Raum teilen müssen. 

Bei dieser Art von Reaktion kommen folgende Fragen aber oft zu kurz: Wie verhindern wir, dass Täter zu Wiederholungstätern werden? Wie ermöglichen wir eine echte Verantwortungsübernahme der Täter? Und wie gelingt es, dass Täter ihr Handeln reflektieren, statt sich mit Rechtfertigungen ihrer Verantwortung zu entledigen? Wie stellen wir sicher, dass auch das Umfeld aus diesen Gewalttaten lernt und Gewalt nicht reproduziert wird? 

Ich bin überzeugt, dass ein sozialer Ausschluss ohne jegliche Gesprächsführung keine nachhaltige Antwort ist. Ausschluss erzeugt Abwehr. Das «hier die guten Menschen» versus «dort der ausgestossene Täter» entlastet zwar kurzfristig, fördert aber weder Verständnis noch Veränderung und verhindert selten weitere Gewalt.

Gute Täterarbeit ist letztlich auch Opferschutz.

Ich plädiere deshalb für eine grundsätzliche «Perspektive des Lernens». Die in der Schweiz eingeführten Lernprogramme gegen sexualisierte und häusliche Gewalt für Tatpersonen sind dafür ein wichtiger Baustein. Ein weiterer Ansatz, der in angelsächsischen Ländern verbreitet, hierzulande aber noch immer zu wenig bekannt ist, ist die restaurative Justiz als Ergänzung zu einem Strafverfahren.

Restaurative Justiz stellt nicht die Strafe, sondern die Auseinandersetzung ins Zentrum: Täter sollen sich aktiv mit ihren Taten auseinandersetzen, Verantwortung übernehmen und verstehen, welche Folgen ihr Verhalten verursacht hat. In professionell begleiteten Verfahren können Opfer, sofern sie dies wünschen, ihre Perspektive einbringen, benennen, was ihnen angetan wurde, und klar formulieren, was sie für ihre Heilung benötigen. Von den Tätern verlangt dieser Ansatz Einsicht, Reue sowie konkrete Schritte der Wiedergutmachung.

Studien belegen, dass solche Verfahren für viele Opfer deutlich heilsamer sind als rein strafrechtliche Sanktionen und dass die Rückfallquoten deutlich gesenkt werden können. 

Opfer werden damit ernst genommen und in ihrem Leiden gesehen. Täter erhalten gleichzeitig die Möglichkeit und die Verpflichtung (!), zu lernen und Verantwortung zu übernehmen. Gute Täterarbeit ist letztlich auch Opferschutz.

Ich bin überzeugt: Nur mit echter Auseinandersetzung, Verantwortungsübernahme und Mut zu Lernprozessen können wir als Gesellschaft weiterkommen. Nur so können wir Wege öffnen, die über Strafe hinausgehen und echte Aufarbeitung ermöglichen. Nur so kann Heilung entstehen. 

In diesem Sinne: besinnliche Weihnachten.

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