Mit zwölf Jahren an Bett und Couch gebunden

Jonas leidet seit vier Jahren an einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung. Weil der Junge falsch therapiert wurde, verschlechterte sich sein Zustand massiv. Seither verlässt er das Haus kaum mehr.

Johannes und Monika mit Sohn Jonas im Rollstuhl
Mehrmals die Woche setzt sich Jonas in den Rollstuhl und macht mit seinen Eltern einen fünfminütigen Rundgang durchs Quartier. (Bild: Alessandra Paone)

Jonas ist ein bewegungsfreudiges Kind. Er hat Spass an jeder Sportart. Wenn er von der Schule heimkommt, spielt er Fussball, geht in die Jugi oder hält sich draussen in der Natur auf. Bei Leichtathletik-Wettkämpfen ist er immer vorne dabei – genauso in der Schule. Er lebt mit seinen Eltern und seinem Bruder im Oberbaselbiet und besucht die dritte Primarklasse.

Als Jonas nach dem Fussballtraining über Schmerzen im Oberschenkel klagt, denkt sich seine Mutter Monika nicht viel dabei. Doch immer öfter ist der Junge nach dem Sport müde, liegt kaputt auf der Couch. Die Erholungsphasen werden immer länger.

Die Kinderärztin überweist Jonas an einen Orthopäden, der ihm Kräftigungsübungen verschreibt. Zu Muskelschmerzen und Erschöpfung kommen auch starke Kopfschmerzen hinzu. Der Achtjährige wird nach dem Prinzip des Ausschlussverfahrens von einer Untersuchung zur nächsten geschickt. Monika und ihr Mann Johannes klappern im Kinderspital sämtliche Abteilungen ab: Neurologie, Kieferchirurgie, Augenklinik, Dermatologie und Onkologie.

Als sich der Verdacht der Kinderärztin auf Blutkrebs nicht bestätigt, kommt sie zum Schluss, Jonas’ Leiden sei psychosomatisch. Sie ermuntert ihn, wieder in die Schule zu gehen. Er komme so vielleicht auf andere Gedanken. Doch so gern er das tun würde – es geht nicht.

400 Meter bis zur Erschöpfung

Monika und Johannes sind sich sicher, dass Jonas nicht unter psychosomatischen Symptomen leidet. Sie wissen aber nicht mehr weiter und erklären sich einverstanden, ihn in einer Rehaklinik in der Ostschweiz behandeln zu lassen. Der Junge ist derart angeschlagen, dass er höchstens 400 Meter zu Fuss zurücklegen kann, mehr schafft er nicht.

Man bietet ihm in der Rehaklinik keinen Rollstuhl an und setzt auf Aktivierung. Jonas macht aber keine Fortschritte: Sein Zustand verschlechtert sich massiv, sodass die Eltern auf Rat ihres Hausarztes hin die Therapie abbrechen. Dieser hatte im Vorfeld den Verdacht auf Long-Covid geäussert, doch die Klinik ignorierte offenbar den Hinweis des Arztes.

Der Therapie-Stopp ist in der Leidensgeschichte der Familie der erste Schritt in die richtige Richtung.

Weitere Abklärungen ergeben, dass Jonas an einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung leidet, die sich Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) nennt. Sie führt oft zu einem hohen Grad körperlicher Beeinträchtigung. In der Schweiz sind laut der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS 60’000 Menschen betroffen, davon sind 60 Prozent arbeitsunfähig und 25 Prozent ans Haus gebunden oder bettlägrig. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung ein.

Alles beginnt mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber

Häufig beginnt ME/CFS nach einer Infektionskrankheit. Seit der Pandemie zeigt sich zudem, dass Menschen nach einer Corona-Infektion ME/CFS entwickeln können. Bei Jonas war es aber nicht Covid-19. Man hat bei ihm das Epstein-Barr-Virus nachgewiesen, ein Herpesvirus, das weit verbreitet ist und die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens infiziert. Es ist die Ursache für Pfeiffersches Drüsenfieber.

Seit der Diagnose sind rund vier Jahre vergangen. Jonas, der in Wirklichkeit anders heisst, ist inzwischen zwölf Jahre alt. Um ihn zu schützen, wollen Monika und Johannes weder den richtigen Namen ihres Sohnes nennen noch ihren Familiennamen oder die Gemeinde, in der sie leben.

Jonas verbringt seine Tage entweder im Bett oder auf der Couch. Während andere Kinder in seinem Alter zum Fussballspielen abmachen oder gamen, beobachtet er die Fische im Aquarium oder schaut seiner Mutter beim Kochen zu. Das Haus verlässt er kaum – und er war nie mehr in der Schule.

Auch an diesem Abend im April liegt Jonas in seinem Zimmer im Bett. Seine Eltern sitzen beim Nachtessen am Tisch. Flurina Schai ist auch da. Sie ist Jonas’ Physiotherapeutin und spezialisiert auf komplexe Krankheits- und Schmerzsymptomatiken. Neben Menschen mit gewöhnlichen Beschwerden wie einem Bandscheibenvorfall behandelt sie auch viele Long-Covid- und ME/CFS-Patientinnen und -Patienten.

«Seit Flurina in unser Leben getreten ist, geht es wieder aufwärts», sagt Monika. Die Therapeutin hat mit der Familie eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut. Sie übt mit Jonas, wie er seine Energie einteilen kann. Man nennt es Pacing, ein therapeutisches Konzept, das darauf abzielt, die Energieressourcen der Betroffenen zu schonen und Überlastungen aller Art zu vermeiden: körperlich, geistig und emotional. «Jonas’ defekter Akku darf abends nicht schon leer sein», sagt Schai. Er dürfe die Belastungsgrenze nicht überschreiten.

Nach dem Zähneputzen kaputt

Charakteristisch für ME/CFS ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM), die alle Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung anhaltend verstärkt. Sie führt zu ausgeprägter Schwäche, Muskelschmerzen, grippalen Symptomen, und der allgemeine Zustand verschlechtert sich.

PEM tritt schon nach geringer Belastung auf. Bereits kleine Aktivitäten wie Zähneputzen, Duschen oder wenige Schritte können zur Tortur werden und die Betroffenen zu tagelanger Bettruhe zwingen. Für Schwerstbetroffene kann die PEM bereits ausgelöst werden, wenn sie sich im Bett drehen oder sich eine weitere Person im Raum aufhält.

Die Aktivierungstherapie in der Rehaklinik sei deshalb verheerend gewesen, sagt Monika. Sie und ihr Mann Johannes machen sich deswegen Vorwürfe. «Wir hätten dem Aufenthalt nicht zustimmen dürfen. Jonas wäre heute vermutlich an einem anderen Punkt.»

Flurina Schai, Physiotherapeutin
«Im Moment sind wir vor allem Einzelkämpfer»: Physiotherapeutin Flurina Schai. (Bild: Alessandra Paone)

ME/CFS-Betroffene leiden auch unter Symptomen wie Herzrasen, Schwindel, Benommenheit und Blutdruckschwankungen. Viele können dadurch nicht mehr für längere Zeit stehen oder sitzen. Jonas muss deshalb eine Uhr tragen, die bei erhöhtem Puls vibriert. An Ostern sass er beim Eierfärben mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder am Tisch. Er trug die Uhr an diesem Tag aber nicht, und niemand merkte, dass sein Puls zu hoch war. Die Folge war ein sogenannter Crash, der zu Kopfschmerzen und Erschöpfung führte. «Ich war einfach nicht aufmerksam genug», sagt Monika.

Keine Ferien, keine Ausflüge

Durch Jonas’ Krankheit hat sich das Leben der Familie markant verändert. Gemeinsame Ausflüge, geschweige denn Ferien, sind kein Thema. Monika und Johannes sind beide arbeitstätig und wechseln sich mit der Betreuung ab. Ein Elternteil ist immer bei Jonas zu Hause. «Wir versuchen aber, einen normalen Alltag zu führen und die Krankheit nicht ins Zentrum zu rücken», sagt Monika.

Das private Umfeld habe Jonas’ Situation anfangs nicht verstanden, erzählt Johannes. Es sei oft die Frage gestellt worden, warum er nicht zur Schule gehe. Man solle ihn doch motivieren, sich ein bisschen zu bewegen, das würde ihm sicher gut tun. Inzwischen aber zeigten Angehörige und Bekannte Verständnis.

ME/CFS wird derzeit nur symptomorientiert behandelt. Es gibt bisher keine Therapie, die die Krankheit heilt oder den Zustand massgeblich verbessert. Einzelne Symptompe zu behandeln, kann jedoch Linderung verschaffen und die Lebensqualität der Erkrankten partiell verbessern.

Nachdem es Jonas drei Jahre lang immer schlechter ging, hat er seit rund einem Jahr ein Niveau erreicht, das Monika und Johannes als «gut» bezeichnen. Die Kopfschmerzen sind verschwunden, und mehrmals die Woche setzt er sich in den Rollstuhl und macht mit seinen Eltern einen fünfminütigen Rundgang durchs Quartier. Zweimal pro Woche kommt ein Lehrer vorbei und unterrichtet ihn während einer halben Stunde. Jonas freue sich immer sehr auf den Unterricht, sagt Johannes.

Wenig erforscht

ME/CFS ist im Vergleich etwa zur Multiplen Sklerose nur wenig erforscht. Monika und Johannes haben sich aber durch den Austausch mit anderen betroffenen Familien, Erfahrungsberichte und mit der Unterstützung von Flurina Schai ein breites Wissen angeeignet. Sie schreiben auch immer wieder Wissenschaftler und Ärztinnen an und fragen sie um Rat.

Der Rückstand der Forschung führt dazu, dass ME/CFS weitgehend unbekannt ist und unbemerkt bleibt. «Weil die Betroffenen in der Regel kaum das Haus verlassen und nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, sind sie isoliert und gehen vergessen. Viele sehen keinen anderen Weg, als sich bei einer Sterbehilfeorganisation anzumelden», sagt Flurina Schai. Die soziale Absicherung und die medizinische Versorgung seien desolat.

Hotel Gstaad Palace blau beleuchtet
Das Hotel Palace Gstaad bei der Aktion #LightUpTheNight4ME im Jahr 2024. (Bild: Esther Saake)

Jonas hat enge Freunde, die ihn zu Hause besuchen oder die er online hört. «Dass Jugendliche die Möglichkeit haben, sich virtuell zu treffen, hilft in solchen Situationen sehr», sagt Monika.

Seit Corona ist ME/CFS etwas mehr in den Fokus gerückt. Die Krankheit ist aber in der breiten Öffentlichkeit immer noch weitgehend unbekannt. «Es darf nicht passieren, dass Erkrankte falsch therapiert werden und sich dadurch ihr Gesundheitszustand verschlechtert», sagt Monika. Es brauche mehr Aufklärung, damit die Symptome frühzeitig erkannt werden.

Monika und Johannes unterstützen deshalb die weltweite Kampagne #LightUpTheNight4ME, die in der Schweiz von der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS organisiert wird. In der Nacht auf Dienstag werden bedeutende Gebäude und Sehenswürdigkeiten blau beleuchtet, etwa das Schauspielhaus Zürich oder das Hotel Gstaad Palace. Im Baselbiet werden unter anderem die Reformierten Kirchen in Diegten, Tenniken und Sissach, der erste Stock des Fenner-Gebäudes, die Strichcode Apotheke in Sissach und zwei Arztpraxen in Sissach und Gelterkinden blau leuchten. Am 17. Mai treffen sich zudem Betroffene und Angehörige zu einer grossen Kundgebung auf dem Bundesplatz in Bern.

Auch Flurina Schai will sich stärker einbringen. Zusammen mit anderen Therapeuten, die sich mit ME/CFS auskennen, eröffnet sie im Juni in Liestal eine Gemeinschaftspraxis. Sie ist zudem dabei, einen Verein zu gründen, mit dem Ziel, dass sich Betroffene, aber auch Fachpersonen vernetzen. «Im Moment sind wir vor allem Einzelkämpfer», sagt sie.

Monika und Johannes wollen die Hoffnung nicht aufgeben und glauben, dass Jonas wieder einmal zur Schule gehen kann.

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