«Man steigt aus, gelangt auf die Traminsel und ist blockiert»

Wer wie Lotti Gächter im Rollstuhl sitzt, hat in Städten mit vielen Hindernissen zu kämpfen. Auf einer Rundfahrt zeigt die 92-Jährige, wo solche in Basel überall lauern.

Lotti Gächter im Rollstuhl in Basel
«Was Männer können, kann ich auch»: Lotti Gächter. (Bild: Daniel Aenishänslin)

Zweifellos, Lotti Gächter haftet etwas Unerschrockenes an. Trotzdem überkommt einen ein mulmiges Gefühl, wenn die 92-Jährige inszeniert, was sie so fuchsteufelswild macht. 

Gächter steht mit ihrem Rollstuhl mitten auf der Fahrbahn der Lehenmattstrasse in Basel. Im Schritttempo fährt sie auf eine abgesenkte Stelle des Trottoirs zu. Drei Zentimeter – was für die grossen Räder hinten kaum ein Hindernis darstellt, ist für die kleinen davor eine Wand. Gächter fällt beinahe kopfüber aus ihrem Rollstuhl. «Gsehsch?»

Für diejenigen, die mit dem Rollstuhl unterwegs sind, sei die Stadt voll mit Hindernissen, erzählt Gächter. OnlineReports begleitet die Seniorin durch Basel und nach Reinach und lässt sich einige dieser Hürden zeigen.

An der Bushaltestelle «Redingstrasse» trifft Gächter ihre Freundin Margrith, die einen Rollator vor sich herschiebt. Auch sie kommt mit den Rändern der Trottoirs nicht zurecht. «Man muss aufpassen, ich gehe nur über den Fussgängerstreifen, alles andere ist mir zu riskant, zu schwierig», sagt die Bekannte.

Alltag für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. 

Ein kurzer Schwatz, dann verabschiedet sich Margrith: «Gut, waren wir auf derselben Strassenseite», bemerkt Gächter. Oft müsse sie einen Umweg fahren, wenn sie auf der gegenüberliegenden Strassenseite jemanden sehe, den sie kenne. 

Seit 25 Jahren im Rollstuhl

Gächter denkt schnell und spricht geschliffen. Die Augen sind nicht mehr die schärfsten. Deshalb hat sie vor Jahresfrist beschlossen, das Autofahren sein zu lassen. Den Rollstuhl braucht sie seit 25 Jahren, aber seit 70 Jahren hat sie Mühe mit dem Gehen – seit dem Unfall. Was damals genau geschah, erzählt sie jedoch nicht. 

Sie wäre gerne Drogistin geworden. Dazu sei sie aber nicht mehr fix genug auf den Beinen gewesen. So wurde sie Taxifahrerin. «Ich wollte nicht die ganze Zeit nichts tun, und fand: Was Männer können, kann ich auch.»

Heute will Gächter schaffen, woran die meisten Fussgängerinnen kaum einen Gedanken verschwenden: flott aufs Trottoir hochkommen und genauso wieder runter. Für Rollstuhlfahrerinnen sei es mühsam, sich in Basel fortzubewegen.

Das Bau- und Verkehrsdepartement Basel-Stadt (BVD) vertritt da eine andere Ansicht. Basel sei gut unterwegs, sagt Sprecherin Nicole Ryf. In den vergangenen zwölf Jahren habe man das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes umgesetzt. In Basel seien 98 Prozent der Querungen abgesenkt. Dies könne sogar zu Problemen führen: Wo das Trottoir auf einer längeren Distanz abgesenkt sei, werde oft unerlaubterweise parkiert. Menschen im Rollstuhl hätten deswegen zu wenig Platz auf dem Trottoir.

Wenn eine Querung noch nicht abgesenkt sei und am entsprechenden Ort nicht ohnehin in sehr naher Zukunft ein Projekt anstehe, könnten sich Betroffene beim Tiefbauamt oder beim Amt für Mobilität melden. «Wir suchen dann nach einer Lösung, die wir in der Regel innerhalb weniger Wochen umsetzen», sagt Ryf.

Treppen in den Gassen

Gächter ist aber überzeugt, «es geht besser», und will es gleich beweisen. Am Dreispitz winkt sie dem Tramchauffeur zu – ein Signal, dass sie einsteigen will und dazu Hilfe benötigt. Es geht nach Reinach, wo in der Schalbergstrasse alle Trottoirs abgeschrägt sind. Kein Anstossen mit den kleinen Rädern des Rollstuhls. Keine Schmerzen. Denn jedes Anstossen führe zu einem Schlag in den Rücken. «Das tut sehr weh.»

Lotti Gächter winkt dem Buschauffeur zu
Lotti Gächter gibt dem Buschauffeur ein Signal, dass sie einsteigen möchte und dazu Hilfe benötigt, (Bild: Daniel Aenishänslin)

Der Abstecher nach Reinach offenbart aber auch ein Dilemma. An derselben Strasse bildet eine u-förmige Vertiefung einen Übergang. Für Gächter «kein Problem». Die Vertiefung lässt einen Passanten hingegen markig fluchen. «Das U führt jedes Mal zu einem Schlag in die Lenkstange. Darum rasen hier alle mit dem Velo über das Trottoir», erklärt er. In diesem Moment braust eine E-Bikerin über genau dieses Trottoir. Der Mann lacht zynisch.

Zurück in Basel beschreibt Gächter, wie sie sich in der Altstadt gerne fortbewegen würde: vom Petersplatz durch eine der schmalen Gassen – zum Beispiel das Imbergässlein – direkt runter zum Marktplatz. Doch Treppen verhindern dies. Stattdessen muss sie über den Spalenberg, den Heuberg oder den Blumenrain gehen. 

BVD-Sprecherin Nicole Ryf hält Gächters Wunsch für «unmöglich». Das Gefälle sei zu stark. Es gebe aber Alternativen: Im Hinterhof des Spiegelhofs gebe es einen Lift, von dem aus man zum Petersplatz gelangen könne. Wenn im Lohnhof die Reception des Hotels Au Violon geöffnet sei, dürfe man den Lift direkt zum Barfüsserplatz benutzen.

Remo Petri leitet bei Procap den Bereich Bauen, Wohnen, Verkehr; die Behindertenorganisation beschäftigt sich schon lange mit Altstädten. Er sagt: «Ein grosses Problem sehen wir im Umgang mit dem Natur- und Heimatschutz.» Viele öffentliche Gebäude könnten Menschen im Rollstuhl nicht zugänglich gemacht werden. Vorgaben der Denkmalpflege verhinderten dies. «Das Bundesgericht hat zu unserem Bedauern die Deutungshoheit der Denkmalpflege bestätigt, auch was neue Anbauten und Erweiterungen betrifft.»

Gerne und oft unterwegs

BVD-Sprecherin Ryf führt aus, wie in Basel Trottoirs gebaut werden. Neue Strassen erhielten Trottoir-Kanten mit einer Höhe zwischen zehn und zwölf Zentimetern. Für die Querungen seien zwei Varianten erlaubt: eine Höhe von drei Zentimetern mit einem Absatz oder eine von vier Zentimetern mit einer Abschrägung.

Beide Varianten seien ein Kompromiss – ein Abwägen zwischen den Bedürfnissen der Rollstuhlfahrerin und jenen des Sehbehinderten, sagt Ryf. «Wer im Rollstuhl sitzt, möchte am liebsten gar keine Erhöhung, während sich sehbehinderte Menschen an den Erhöhungen orientieren und gerne höhere Kanten hätten.» Basel habe sich aus Sicherheitsgründen für die Variante mit drei Zentimetern und Absatz entschieden. Letzterer sorge dafür, dass Velos und Trottis abbremsen, bevor sie aufs Trottoir hochfahren.

Lotti Gächter ist trotz ihrer Kritik gerne und oft unterwegs. Stets adrett gekleidet, die Frisur nicht dem Zufall überlassen. Die Mine würdevoll und mit einem verschmitzten Lächeln. Dieses vergehe ihr aber, wenn sie auf Hindernisse stosse. Etwa am Aeschenplatz: «Man steigt aus, gelangt auf die Traminsel und ist blockiert.» Wolle man da runter, müsse man dies sehr sorgfältig und rückwärts tun, mit den grossen Rädern voran. «Dann wirst du aber zum Verkehrshindernis.»

Gächter wohnt im Breite-Quartier. Fährt sie mit der Buslinie 36 vom Dreispitz zur Breite, muss sie zuerst daran vorbeifahren. Später steigt sie beim Tinguely Museum aus, überquert die Strasse auf dem Veloweg, winkt den nächsten Buschauffeur heran und fährt zurück zur Breite. Erst jetzt befindet sich die Rollstuhlgängerin auf der gewünschten Strassenseite.

Macht auch gute Erfahrungen

Der Grund für den Umweg ist eine Treppe. Die Unterführung unter der Kreuzung hindurch ist nur zu Fuss erreichbar. Das gilt auch für die Haltestelle vor der Verkehrspolizei an der Schwarzwaldstrasse 100. Von da aus führt der Weg in die Unterführung zur Wettsteinallee – wunderschön, verziert mit vielen Fasnachtsmotiven. 

Lotti Gächter mit dem Buschauffeur
«Hilfsbereite Leute»: Lotti Gächter lobt die Chauffeurinnen und Chauffeure. (Bild: Daniel Aenishänslin)

«Ich fühle mich nicht wahrgenommen. Die Bedürfnisse der Invaliden spielen keine Rolle. Das macht einen schon traurig», klagt die 92-Jährige. Vom Schreibtisch aus gestalteten «diese Herren» Basel. «Es würde sich keiner mal in den Rollstuhl setzen und durch die ganze Stadt fahren. Da würde man auf die Welt kommen.» Vor allem bei den vielen Kopfsteinpflastern, «die einen durchschütteln».

Doch Gächter macht auch gute Erfahrungen. Die Chauffeurinnen und Chauffeure der Trams und Busse seien «sehr hilfsbereite Leute.» Die Seniorin berichtet auch von Menschen, die aus ihren Autos und von ihren Velos steigen, um ihr zu helfen. «Dafür bin ich dankbar.»

Auch hat Basel seit 2019 ein kantonales Behindertenrechtegesetz. «Basel-Stadt schreitet voran – übrige Kantone müssen nachziehen», schrieb Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, damals in einer Medienmitteilung. Man hoffe, der Basler Beschluss habe schweizweit Signalwirkung. Auf Anfrage kann Sprecherin Kim Pittet nicht sagen, wo Basel heute im Vergleich mit anderen Städten steht. Aber grundsätzlich vertritt sie die Meinung, dass sich die Schweiz gemessen an ihren finanziellen Möglichkeiten im internationalen Vergleich nicht an der Spitze befinde. «Sie hat Luft nach oben.»

Lotti Gächter will aufrütteln und fordert Verbesserungen. «Ich werde nicht mehr viel davon profitieren, aber andere.» Man dürfe nicht nur an sich selbst denken.

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