Die Angst, überrollt zu werden

Der Kolumnist und FDP-Landrat ruft Politikerinnen und Politiker dazu auf, die Komplexität neuer Massnahmen und Regelungen nicht auf die Bevölkerung abzuwälzen.

Delegiertenversammlung FDP Schweiz, 18. Oktober 2025
Die FDP-Delegierten stimmen über die Verträge der Schweiz mit der EU ab. (ZVG)

Am 18. Oktober trafen sich über 450 Delegierte der FDP im Stade de Suisse in Bern, um über die Haltung der Freisinnigen zu den Abkommen der Schweiz mit der EU zu befinden. In der ganzen Schweiz verfolgten Menschen die freimütige Debatte via Livestream. Die Lokalität hätte besser nicht passen können. Dem Resultat wurde entgegengefiebert wie dem Ausgang eines Penaltyschiessens in einem Cupfinal. Es fiel mit 330 Ja zu 104 Nein für die Abkommen sehr klar aus.

Die Diskussion über die Abkommen werden wir noch intensiv führen. Bemerkenswert sind aber die heftigen Emotionen, die das Thema auslöst. Übt der Bundesrat «Landesverrat», wenn er nach jahrelangen Verhandlungen samt zwischenzeitlichem Übungsabbruch und nach zahllosen Gesprächen mit Parteien, Verbänden, Kantonen sowie Bürgerinnen und Bürgern den Räten einen Vertragsentwurf vorlegt? Sind diejenigen, die die Verträge unterstützen, «heimatmüde»? Will die EU – deren Mitgliedstaaten sich erheblich voneinander unterscheiden – die Schweiz «unterwerfen»? Stossen die Abkommen das Tor zu einer «Brüsseler Diktatur» sperrangelweit auf? Ist man «käuflich», wenn man Ja sagt?

Die Tendenz, Volksentscheide zu Schicksalsfragen zu machen, hat seit der Covid-19-Pandemie zugenommen. Die Abstimmung zur E-ID vom 28. September ist ein Beispiel. Das Thema hat untergeordnete Bedeutung. Der Bund erhält die Kompetenz, einen elektronischen Identitätsnachweis zu schaffen, den diejenigen beantragen können, die ihn nutzen wollen – zum Beispiel für den Altersnachweis im Netz. Eine knappe Mehrheit der Stimmenden sagte Ja.

Populisten greifen Ängste und Verunsicherungen auf und lenken sie in die gewünschte Richtung.

Keine Frage: Man kann die E-ID ablehnen, etwa wegen Bedenken, Leute ohne Smartphones würden ausgeschlossen oder weil man dem Staat punkto Datensicherheit nicht traut. Aber peilen diejenigen, die zugestimmt haben, den «totalen Überwachungsstaat» an? Sind sie sinistre Verschwörer, die alle unsere Bewegungen, Äusserungen, Vorlieben kontrollieren wollen? Wollen sie den Weg ebnen für eine Unterdrückung der Freiheitsrechte und brutale Repressionen gegen Unbotmässige im Stil der Volksrepublik China? Sicher nicht! Und doch finden sich derartige Behauptungen zuhauf.

Woher kommen solche sektiererischen Klassifizierungen in Gut und Böse? Populisten greifen Ängste und Verunsicherungen auf und lenken sie in die gewünschte Richtung.

Ich sehe zwei Faktoren, die wir im Auge behalten müssen. Erstens sind Vorlagen, über die wir entscheiden, aufgrund der internationalen Vernetzung und der rasanten Entwicklung virtueller Technologien komplexer geworden. Viele fühlen sich überrollt, hilflos und abgehängt. Wir dürfen die Komplexität neuer Massnahmen und Regelungen nicht auf die Bevölkerung abwälzen. Wir sollten an die Nutzerfreundlichkeit auch für Leute denken, die Gewohntes nicht leichthin aufgeben und der ökonomischen Effizienz nicht alles unterordnen wollen. Von Mensch zu Mensch erbrachte Dienstleistungen sind nach wie vor wichtig. Das Onlineportal ist praktisch, ersetzt das Telefongespräch oder den direkten Kontakt aber nicht immer gleichwertig. Zweitens ist es zentral, dass Politikerinnen und Politiker nichts versprechen, was sie nicht halten können oder wollen. Wer nicht weiss, woher das Geld dafür kommt, sollte nicht üppige Leistungen in Aussicht stellen. Beschlüsse sind umzusetzen, auch wenn es unbequem ist. Das gilt namentlich auch dann, wenn das Volk entschieden hat.

Dass das Parlament den 2014 gutgeheissenen Verfassungsartikel zur Steuerung der Zuwanderung (Art. 121a der Bundesverfassung) gar nicht und den 1994 angenommenen Alpenschutzartikel (Art. 84 der Bundesverfassung) nur teilweise umsetzte, wirkt heute noch nach. Verlorenes Vertrauen in die Politik ist das grösste Kapital der Populisten. Verantwortliche sollten die Realität nicht schönreden und der Bevölkerung reinen Wein einschenken, statt in blumigen Worten Luftschlösser zu bauen. Dann werden sich Sachargumente gegenüber populistischen Zerrbildern wieder besser behaupten.

Kolumne: «Schinzel Pommes»

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