Keine Demokratie ohne freie Rede!
Der Kolumnist sieht die freiheitliche Gesellschaft bedroht. Denn wer offen zu religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen stehe, müsse mit Konsequenzen rechnen.
Wir gehen durch turbulente Zeiten. In den vergangenen Wochen beschäftigte mich vor allem die Meinungsfreiheit. Die freie Rede oder «free speech», wie die Angelsachsen sagen, ist schwer unter Druck. Und mit ihr auch die Freiheit der Lehre, der Forschung und des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses.
Die Freiheit, offen zu religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen stehen zu können, wird massiv verletzt, wenn jüdische Studierende an Universitäten vom Besuch von Vorlesungen abgehalten werden oder wenn sie aus Angst, sich zu exponieren, religiöse Symbole wie Davidstern und Kippa ablegen. Diese Freiheit wird auch missachtet, wenn Menschen im öffentlichen Raum friedlich an das von der Hamas in Israel verübte Massaker des 7. Oktober 2023 erinnern wollen, und die Sicherheitsorgane ihnen mitteilen, sie könnten sie leider nicht schützen.
Die Freiheit, seinen Beruf diskriminierungsfrei ausüben zu können, wird schwer eingeschränkt, wenn ein Musikfestival im belgischen Gent einen Auftritt der Münchner Philharmoniker streicht, weil man vom israelischen Dirigenten Lahav Shani eine Erklärung zum Gaza-Konflikt gefordert hatte, die offenbar nicht im Sinne der Festivalleitung ausfiel. Dass die Verantwortlichen kalte Füsse bekamen und später erklärten, die Konzertabsage sei wegen Sicherheitsbedenken erfolgt, verschlimmert diese antisemitische Entgleisung zusätzlich.
Die Freiheit, sich in der Öffentlichkeit für die Rechte von LGBTQIA-Personen einzusetzen, wird erschüttert, wenn die familienpolitische Sprecherin der AfD in Niedersachsen, Vanessa Behrendt, die Regenbogenfahne als Symbol für «Machenschaften pädophiler Lobbygruppen» bezeichnet und kurz nach dem Mord am amerikanischen Rechtsaussen-Influencer Charlie Kirk ohne Kenntnis über Tat und Täter auf der Plattform X postet, offenbar habe die Regenbogenbewegung Kirk umgebracht.
In einem demokratischen Land dürfen Gedanken nicht nur gedacht, sondern auch öffentlich gesagt, niedergeschrieben und verbreitet werden.
Die Freiheit des öffentlichen Meinungsstreits wird brutal abgewürgt, wenn in den USA massgebliche Demokraten und Republikaner in ihren Häusern oder wie im Fall von Charlie Kirk während einer Veranstaltung auf dem Podium ermordet werden. Voreilige Schuldzuweisungen und flammende Empörungs-Bewirtschaftung durch Amtsträgerinnen und Amtsträger, die Parteien, Bewegungen und grosse Teile der Bevölkerung wegen ihrer politischen Gesinnung unter Generalverdacht stellen, untergraben die Redefreiheit weiter. Bedenklich ist es, wenn die US-Regierung Druck auf Fernsehsender, Zeitungen und Journalisten ausübt, weil sie mit Berichten oder Äusserungen in Late Night Shows nicht einverstanden ist. Das wiegt schwer in einem Land, das «free speech» stets hoch gewichtet hat, weil es von Menschen geprägt wurde, die gezwungen waren, ihre Heimat wegen religiöser oder politischer Verfolgung zu verlassen.
«Free speech» ist die existentielle Voraussetzung einer freien Gesellschaft. «Die Gedanken sind frei», heisst es in einem deutschen Volkslied des 19. Jahrhunderts. In einem demokratischen Land dürfen Gedanken nicht nur gedacht, sondern auch öffentlich gesagt, niedergeschrieben und verbreitet werden. Das gilt auch für Geschmackloses und bodenlos Falsches. Kritik an der Regierung muss immer möglich sein. Dabei geht es nicht nur um die demokratische Beteiligung. Neue Gedanken, die vorherrschende Meinungen hinterfragen, sind die Basis jeden Fortschritts.
An der Trauerfeier für Charlie Kirk vergab seine Witwe Erika dem Täter in emotionalen Worten. Präsident Trump dagegen rief Zehntausenden zu: «Ich hasse meine Gegner.» Die freie Rede deckt das. Aber der Präsident eines zerrissenen Landes, das von politisch motivierten Gewalttaten erschüttert wird, sollte anderes sagen. Wer Kontrahenten so abwertet, wer sich gar die Respektlosigkeit leistet, das Bild des früheren Präsidenten Biden im Weissen Haus durch das Foto eines Unterschriftenautomaten zu ersetzen, zeigt, wie weit er sich vom Fundament einer freiheitlichen Gesellschaft, die nie ausschliesst, dass auch andere recht haben könnten, entfernt hat.