Kolumne: «Schinzel Pommes»

Furchtlose Mädchen

Der Kolumnist ruft vor Weihnachten dazu auf, mutig und zuversichtlich zu sein – wie Maria an der Krippe, die kurdischen Kämpferinnen oder die Frauen im Iran.

Fearless Girl, New York
Wir sind da, und wir bleiben: Fearless Girl. (© Foto: Marc Schinzel)

Weihnachten steht vor der Tür. Viele erwarten sie freudig. Kinder lieben den geschmückten Christbaum und die Bescherung. Erwachsene geniessen vertraute Traditionen und die Momente der Besinnlichkeit, die sich einstellen, wenn alles eingekauft, gekocht und organisiert ist. Nicht wenige wollen dem festlichen Trubel entfliehen und verschanzen sich bis zum letzten Moment im Büro. Es sei viel geheuchelt, oberflächlich und verschwenderisch, kritisieren sie. Doch die Christmas Songs von Wham, Band Aid und Bing Crosby holen auch sie ein. Die Glocken klingen – süss für die einen, aufdringlich für andere.

Im Zentrum von Weihnachten steht die Krippe mit dem kleinen Kind, dem es bestimmt ist, uns den Pfad zu zeigen, auf dem wir uns nicht selbst im Weg stehen. Hilfe zur Selbsthilfe, mit göttlicher Zuwendung auch dann, wenn wir scheitern. Ein Lichtblick aus der Antike, der alles andere als selbstverständlich war, in einer Zeit, die Stärke idealisierte, mit Herakles und Atlas, der die Erde auf seinen Schultern trägt. «Fürchtet euch nicht!», verkünden die Engel in der Weihnachtsnacht beim Neugeborenen, weit weg von den Palästen. Furcht ist lähmend. Sie erstickt unsere Kreativität und hindert uns, Lösungen zu suchen für Probleme, die uns belasten. Wahrer Frieden ist kein Deal, sondern die Freiheit, Zwänge zu durchbrechen und unsere Umwelt zu gestalten, ohne andere zu verachten und niederzudrücken.

«Fearless Girl» heisst das von der Amerikanerin Kristen Visbal 2017 geschaffene, 1,30 Meter kleine Mädchen aus Bronze, das – die Hände in die Hüfte stemmend – mit entschlossener Miene über die Broad Street auf die New Yorker Börse mit ihrer wuchtigen, von klassizistischen Säulen geprägten Fassade blickt. Das Mädchen mit dem kecken Rossschwanz ist kaum je einsam. Zahlreiche Touristinnen und Touristen, die den New Yorker Financial District besuchen, warten geduldig, bis sie sich für ein Foto zu ihm gesellen können. Japanerinnen, Globetrotter von Norwegen bis Texas, Reisegruppen aus Kanada, China, Deutschland oder Australien, ja ganze Familien aus Mexiko werfen sich in dieselbe, selbstbewusste Pose.

Oft sind es Frauen, die als «fearless girls» hinstehen und Verantwortung übernehmen, wenn Mut und Tatkraft gefragt sind.

Die Botschaft elektrisiert: Den Mächtigen in Erinnerung rufen, dass sie nicht allein sind auf der Welt und dass Geld seine Funktion nur erfüllt, wenn es in Umlauf kommt. Wir sind da und wir bleiben, scheint das furchtlose Mädchen zu sagen. Setzt ihr mit uns auf den inspirierenden Geist der Freiheit, der sich nicht über andere erhebt, oder verharrt ihr in mutloser Selbstgefälligkeit?

Die Zuversicht in die uns gegebene Kraft, Belastendes wegzuräumen und neue Wege zu beschreiten, versinnbildlicht auch Maria an der Krippe in Betlehem. Welche Frau würde nicht zutiefst erschrecken, wenn ihr verkündet wird, sie werde Gottes Sohn gebären? Kann sie diesem Kind eine gute Mutter sein? Was, wenn ihm etwas geschieht? Keine Versicherung würde das Risiko abdecken. Ohne Vertrauen, sich auf Neues einzulassen und daran zu glauben, etwas zum Guten bewegen zu können, geht es nicht im Leben.

Oft sind es Frauen, die als «fearless girls» hinstehen und Verantwortung übernehmen, wenn Mut und Tatkraft gefragt sind. Nicht nur im familiären und beruflichen Alltag, sondern auch in der syrischen Stadt Kobane, wo sich kurdische Kämpferinnen 2014 den Terroristen des Islamischen Staats entgegenstellten. Oder im Iran, wo sich Frauen wehren, von archaisch-patriarchalen Männern ihrer Freiheit und Würde beraubt zu werden. Oder in Buenos Aires, wo sich die Mütter der Plaza de Mayo erfolgreich dafür einsetzten, dass ihre unter der Militärdiktatur entführten und ermordeten Kinder nicht vergessen werden und die Täter vor Gericht kommen. 

«Imagine there’s no heaven», beginnt das von John Lennon geschriebene, berühmteste Friedenslied der Popmusik. Will uns Lennon den Himmel ausreden? Nein. Aber den Himmel entlasten von zahllosen Geigen, Harfen, Flöten, weissen Wölkchen und Schäfchen, unseren irdischen Geist himmlisch entrümpeln, das täte schon gut. Fürchtet euch nicht!

Kolumne: «Schinzel Pommes»

Kommentare

Ueli Keller
Bildungs- und Lebensraumkünstler

Wo Angst ist, mögen wir kreativ werden

Beispielsweise Klima, Krankheiten und Kriege: die Mächtigen der Welt überfluten uns giga-mega mit ihren Schreckensmeldungen, um uns Angst und hörig zu machen. Angst als Schattengefühl verdrängt, kann uns hemmen, das für uns Mögliche und Richtige wirkungsvoll zu tun. Angst bewusst genutzt, lässt uns kreativ werden und unsere Energie fliessen.