Was darf Heimat kosten?
Nach dem Bergsturz in Blatten kommt die Frage auf, ob man Hochtäler aufgeben soll. Nein, findet der Kolumnist.
Am 28. Mai wurde Blatten im Lötschental von einem verheerenden Bergsturz erfasst. Gegen zehn Millionen Kubikmeter Fels, Schlamm und Eis des Birchgletschers deckten das Bergdorf meterhoch zu. 90 Prozent des Ortes wurden zerstört. Die aufgestaute Lonza überflutete viele weitere Häuser. Das schmucke Blatten mit seinem alten Walliser Dorfkern existiert nicht mehr. Die Einwohnerinnen und Einwohner, die gottseidank rechtzeitig evakuiert worden waren, verloren ihr ganzes Hab und Gut, darunter unersetzliche Erinnerungsstücke. Ihre Heimat liegt unter Geröll begraben. Blattens Gemeindepräsident Bellwald sagte, die Geschichte des Dorfs sei ausradiert worden. Stunde null in Blatten.
Die Solidarität der Schweizerinnen und Schweizer ist gross. Das Schicksal der Menschen von Blatten bewegt zutiefst. Die Kleinräumigkeit unseres Landes bringt es mit sich, dass viele persönliche Eindrücke von Blatten und seiner Umgebung, zumindest aber von ähnlichen Landschaften, haben. Es wurde uns schlagartig bewusst, wie sehr die Natur mit ihrer unbändigen Kraft das Leben der Menschen in den Bergtälern prägt.
Das Ausmass der Katastrophe, deren Eintritt als Worst-Case-Szenario zeitlich prognostizierbar, nicht aber abwendbar war, führte rasch zu Überlegungen, ob es Sinn macht, Blatten wieder aufzubauen. «Wo weniger ist, geht weniger kaputt. (…) Wer siedelt um?», fragte Beat Balzli, Chefredaktor der NZZ am Sonntag, nur drei Tage nach dem Bergsturz («Politiker in der Empathiefalle oder warum das Comeback von Blatten eine Illusion bleiben dürfte», NZZ am Sonntag, 31. Mai 2025). In dieser schmerzhaften Debatte müssten «Begriffe wie Solidarität oder nationaler Zusammenhalt» als «Totschlagargument» herhalten, so Balzli.
Die Reaktion folgte prompt. Der Walliser Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy schrieb auf X, die Diskussion, Hochtäler aufzugeben, sei immer falsch gewesen und nun erst recht pietätlos. Sie bedeute, «Menschen die Heimat zu nehmen». Chefredaktor aus der Limmatstadt gegen Nationalrat aus Naters, Stadt gegen Land, Wirtschaftsmetropole gegen Berggebiet, zweitgrösster Geberkanton Zürich (419 Millionen Franken) gegen zweitgrössten Empfängerkanton Wallis (878 Millionen Franken) beim interkantonalen Finanzausgleich: Die Debatte ist lanciert.
«Heimat ist keine beliebige Sache, die man wechselt wie die Unterwäsche.»
Was darf Heimat kosten? In Blatten wohnten 300 Personen. 200 Menschen leben in Bondo im bündnerischen Bergell, das ein Murgang 2017 verwüstete. Acht Berggängerinnen und Berggänger wurden damals in den Tod gerissen. 53 Millionen Franken gab man danach aus, um Bondo zu schützen. Sitzen wir dem Mythos der Berge auf, der reinen Landschaft, aus der Wilhelm Tell ins Tal hinabgestiegen sein soll, um die Schweiz aus den Klauen machtgieriger, verdorbener, fremder Vögte zu befreien? Wäre es nicht besser, uns um die städtische Wohnungsnot zu kümmern und touristisch wenig erschlossene Hochtäler den Wölfen, Luchsen, Bartgeiern, vielleicht gar Bären zu überlassen, deren Schutz uns ja auch am Herzen liegt?
Nein, das wäre es nicht. Klar müssen wir lernen, mit der sich verändernden Natur und nicht gegen sie zu leben. Klar müssen wir Geld für Schutzmassnahmen effizient ausgeben. Nicht jedes Heim kann mit Millionen von Franken gegen den Berg geschützt werden, wenn der Grund, auf dem es steht, rutscht. Doch Heimat, so hart das Leben dort sein mag, ist keine beliebige Sache, die man wechselt wie die Unterwäsche.
Juden haben seit zwei Jahrtausenden Sehnsucht nach Jerusalem. Und die Menschen in Gaza wollen nicht in den Sinai oder nach Jordanien zwangsumgesiedelt werden. Heimat ist da, wo sich der eigene Geist entfaltet und zugleich Ruhe findet, wo man Kraft schöpft aus dem, was aufgebaut wurde, es achtsam pflegt, entwickelt und den Nachkommen anvertraut. Die Menschen von Blatten und Bondo haben eine Heimat: im Lötschental, im Bergell, im Wallis, in Graubünden und in der Schweiz.
Ich freue mich, Teil ihrer Heimat zu sein und sie beim Wiederaufbau und Schutz ihrer Dörfer unterstützen zu dürfen.