«Man kann durchaus von einer diskriminierenden Raumplanung sprechen»
Rund 3000 fahrende Jenische und Sinti suchen ein Winterquartier. Doch noch immer sind Plätze rar. Der Geschäftsführer der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende sagt, warum das so ist und was zu tun wäre, um die Lage zu verbessern.
Simon Röthlisberger, in Basel-Stadt und Baselland gibt es kaum Standplätze. Wie beurteilen Sie die Situation?
Im Baselbiet sind nur die Plätze in Wittinsburg und Liestal wirklich brauchbar. In Basel existiert an der Friedrich-Miescher-Strasse ein kleiner Platz mit etwa zehn Stellplätzen. Dieser ist in einem guten Zustand. Er dient als Durchgangsplatz und gleichzeitig als Transitplatz. Auch längere Aufenthalte im Winter sind möglich. Dies sind etwas viele Nutzungsansprüche auf engem Raum. Positiv ist, dass er das ganze Jahr offen steht. Ein Winterstandplatz mit fest installierten Wohnwagen, Containern und Chalets, um darin den Winter zu verbringen, wäre gut.
Was sollte ein Standplatz bieten?
Eine gute Verkehrsanbindung und die Möglichkeit, mit grossen Wohnwagen auf den Platz fahren zu können. Je nach Lage ist auch Lärmschutz nötig. Wir empfehlen das und sprechen hierfür auch Beiträge aus unserem Unterstützungsfonds. Ausserdem plädieren wir von der Stiftung dafür, dass ein Standplatz einer Wohnnutzung gleichgestellt und wie ein Wohnquartier behandelt wird. Der Platz ist ja nicht nur da, um Zugfahrzeuge und Wohnwagen abzustellen. Er ist Lebensraum für Familien mit Kindern.
Was halten Sie vom temporären Winterstandplatz, der im Juni in Füllinsdorf eröffnet wurde?
Wie Sie sagen, ist er temporär und damit raumplanerisch nicht gesichert. Der Kanton unternimmt Anstrengungen, um einen dauerhaften Standplatz zu eröffnen. Füllinsdorf ist ein Kompromiss. Die Nachfrage besteht, doch eine dauerhafte Lösung ist noch nicht in Sicht, obwohl gerade dafür der Bedarf absolut vorhanden ist.
Halteplätze für Fahrende werden in verschiedene Kategorien eingeteilt. Auf Durchgangsplätzen dürfen Fahrende bis zu 30 Tagen bleiben. Standplätze dienen als Winterquartier. Und Transitplätze sind für Fahrende aus dem Ausland.
Im Aargau oder im Kanton Bern bestehen kantonale Fachstellen, die sich um die Bedürfnisse der Fahrenden kümmern. In beiden Basel ist die Zuständigkeit in die Kantonsverwaltung integriert.
Füllinsdorf wollte zuerst keinen Platz an der Wölferstrasse für Fahrende. Die Gemeinde argumentierte, die Lage zwischen Kläranlage, Kanalbauer und mit Schwerverkehr belasteter Strasse sei unzumutbar. Das klingt plausibel.
Wir stellen fest, die Plätze für die Jenischen, Sinti und fahrenden Roma liegen oft an belasteten Orten, die sonst nicht als Wohngebiete genutzt werden. Zum Beispiel neben einer Hauptstrasse mit einer hohen Lärmbelastung oder neben einer Abwasser- und Kläranlage. Offensichtlich sind das jene Räume und Flächen, die eine Mehrheit den Minderheiten zugestehen will. Es gibt in der Schweiz 17 Winterstandplätze. Es sollten aber 20 bis 30 zusätzliche geschaffen werden. Bereits im Sommer sind die Fahrenden in Sorge darüber, wo sie den nächsten Winter verbringen dürfen, wo sie ihre Kinder zur Schule schicken können. Das ist eine Belastung für die Betroffenen.
Warum ist das so?
Hier tasten wir uns langsam vor zu den Themen Vorurteil und Notwendigkeit. Es hängt sicher vom politischen Willen ab, wahrscheinlich auch von strategischen Überlegungen. Will man ein Platzprojekt in einer Wohnzone planen, wenn man weiss, dass die Nachbarschaft Einsprache erheben und das Projekt sich massiv verzögern wird? Gerade, wenn man auf ein Grundstück wie in Füllinsdorf ausweichen kann, das bereits dem Kanton gehört und wo mit wenig Widerstand zu rechnen ist. Aus dieser Perspektive macht es natürlich Sinn, Grundstücke zu suchen, die irgendwo am Rande gelegen sind. Nur führt das eben zu einer Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppe. Die Angst vor dieser unbekannten fahrenden Minderheit ist schon beeindruckend.
Oft wird der Vorwurf laut, Fahrende seien unsauber, hinterliessen viel Müll und klauten.
Müll kann zu einem Problem werden. Das Risiko, dass man unsorgfältig mit der Umgebung umgeht, ist besonders gross, wenn grössere Gruppen von ausländischen Fahrenden keine Haltemöglichkeit haben. Eine fehlende Wasserentsorgung führt zum Beispiel dazu, dass Felder als Abfluss genutzt werden. Wo ein klares Bewirtschaftungskonzept vorliegt, mit Platzwart und Ansprechperson, mit Frischwasser, Strom, Abwasser und Abfallentsorgung, verringern sich die Konflikte massiv. Doch in der Regel tragen die Fahrenden Sorge zu den Halteplätzen, denn sie wollen ja wiederkommen. Zu diesen gehören auch Roma und Sinti aus Frankreich, die seit ihrer Kindheit in die Schweiz fahren und eine Verbundenheit mit unserem Land verspüren.
«Die marginale Lage der Plätze für Fahrende sagt sehr viel über die teilweise marginale Position von Minderheiten innerhalb der Mehrheitsgesellschaft aus.»
Simon RöthlisbergerSie haben von einer Marginalisierung der Fahrenden gesprochen. Woran machen Sie diese fest?
Die marginale Lage der Plätze für Fahrende sagt sehr viel über die teilweise marginale Position von Minderheiten innerhalb der Mehrheitsgesellschaft aus. Man kann durchaus von einer diskriminierenden Raumplanung sprechen. Wir stellen häufig Ängste fest, wenn es um Platzprojekte geht, die neu vorangetrieben werden sollen. Man befürchtet etwa, dass die Eigentumswohnung, von deren Balkon man gerade noch den provisorischen Durchgangsplatz sieht, an Wert verlieren könnte. Gleichzeitig erleben wir aber auch viele Gemeinden und Nachbarschaften, die offen sind.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Die Stadt Bern hat im Sommer 2024 auf einer Baubrache im Quartier Steigerhubel einen temporären Transitplatz für ausländische Fahrende betrieben. Oder mitten im Städtchen Erlach am Bielersee wurde ein Campingplatz im Winter zum Winterstandplatz umgenutzt. Rund um diesen Platz befinden sich nur Wohnhäuser. Es gab keine Einsprachen, dafür aber ein Eröffnungsfest mit den Jenischen und der Dorfbevölkerung.
Als Notlösung entscheiden sich die Fahrenden immer wieder zum Spontan-Halt. Führt dieser nicht zu Konflikten mit Grundeigentümern und Behörden?
Der Spontan-Halt ist geregelt und lebt vor allem von persönlichen Kontakten. Es handelt sich dabei um eine sehr alte Form des Fahrens und Haltens. Ein Spontan-Halt basiert auf einer Absprache mit dem Grundeigentümer oder der öffentlichen Hand. Es werden etwa leerstehende Zirkus-Plätze oder Grundstücke von Bauern genutzt. Es kann natürlich sein, dass das Einverständnis des Grundeigentümers besteht, die Gemeinde sich aber querstellt. Der Spontan-Halt sollte weiterhin möglich sein. Es wäre falsch, ihn durch raumplanerisch gesicherte Stand- und Durchgangsplätze zu ersetzen.
Wer aber stellt die «dringend nötigen» Halteplätze?
Im Normalfall baut der Kanton den Platz und ist besorgt für das Platzreglement. Es gibt aber unterschiedliche Lösungsformen. In Wittinsburg beispielsweise hat der Kanton den Platz gebaut; er bezahlt und betreibt ihn gleich selbst. Andere Plätze werden zwar von den Kantonen gebaut, jedoch von den Gemeinden mit einer Defizitgarantie betrieben. Und schliesslich gibt es Plätze, die die Gemeinden in Eigenregie erstellen und unterhalten.
Gemäss Bundesgerichtsentscheid von 2003 haben Fahrende ein Anrecht darauf, dass ihre räumlichen Bedürfnisse befriedigt werden. Warum erstreiten sie sich dieses Recht nicht vor Gericht?
Es handelt sich um ein Recht, das nicht einklagbar ist. Es mindert aber nicht die Verpflichtung der Behörden, um Halteplätze besorgt zu sein. Heute gibt es 27 Durchgangsplätze. Das ist eine leicht positive Entwicklung, es müssten aber fast 50 weitere gebaut werden. Derzeit gibt es in der Schweiz acht Transitplätze für ausländische Fahrende. Es sollten neun mehr sein.
Ist das nicht Zweckoptimismus?
Nein. Die Kantone stehen in der Pflicht, vorwärts zu machen und es gibt Entwicklung. Man kann die Frage stellen, mit wie viel Intensität, Engagement und politischem Willen solche Platzprojekte vorangetrieben werden. Wo der politische Wille vorhanden ist, idealerweise auf Ebene des Regierungsrats und der potenziellen Standortgemeinde eines Platzes, findet man in der Regel auch Lösungen. Im Ausland ist Frankreich ein gutes Beispiel: Jede grössere Gemeinde ist verpflichtet, Haltemöglichkeiten zu schaffen. Doch schaut man genauer hin, merkt man, dass es auch dort offenere und weniger offene Behörden gibt.
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