Es rudert die Kunst

Die Kolumnistin führt aus, warum die Kunstwelt irrt: Arnold Böcklin hat das Boot vor der Toteninsel nicht falsch gemalt – es fährt rückwärts!

HxB: 110.9 x 156.4 cm; Öl auf Leinwand; Inv. 1055
Die Toteninsel von Arnold Böcklin, Urversion von 1880. (Bild: Kunstmuseum Basel)

Heute gehen wir rudern. Nicht in einem dieser schmalen Stress-Schlitten, womöglich Megafon-getrieben, sondern in einer gemütlichen Nussschale, mit spitzem Bug und senkrecht abfallendem Heck. Mit Bänken und Platz für Personen und Gepäck.

In meiner Kindheit und Jugend, die ich häufig am Bielersee verbrachte, waren zwei derartige Beiboote unser Lieblingsspielzeug. Sie lagen umgekehrt auf einer Rampe, allzeit bereit für Ausflüge aller Art. Uns Kindern dienten sie unter anderem für Seeschlachten. Die Mannschaft des einen Boots versuchte, das andere Boot mittels Bootshaken und Ruder zu versenken, Piraten und Piratinnen waren wir. Die Boote sanken nicht, füllten sich lediglich mit Wasser und dümpelten dann unter der Wasseroberfläche. Wir mussten sie nach gewonnener oder verlorener Schlacht mühsam ans Ufer ziehen und langsam hochstemmen, damit das Wasser wieder abfloss. Meistens waren beide Boote ziemlich vollgelaufen, so dass wir einige Zeit beschäftigt waren.

Dass wir rudern können mussten, war klar. Wir konnten es, bevor wir Velofahren konnten, erst recht, bevor wir auch nur ein Velo besassen. Mein Vater ruderte freihändig mit einem Ruder und im Bug stehend, nach vorne schauend, alle andern auf der Mittelbank sitzend, rückwärts, die Ruder in den Dollen, was diese Gabeln sind, in denen die Ruder liegen, Stüdli heissen sie in Basel. In aller Regel rudert man also mit dem Rücken zum Spitz, rückwärts, ausser man ist Gondoliere oder Wassersportler auf dem Rhein in einem Weidling.

Jede Regel hat ihre Ausnahme. Wer beispielsweise eine Kiste transportieren muss, die breiter als das Boot ist, legt sie quer darüber, aber natürlich nicht über den Bug, der läuft ja im Spitz zu und die Kiste würde kippen oder den Bug ins Wasser drücken, sondern über das Heck. Da hat man sie beim Rudern auch im Auge. Bis zum Landemanöver kann so problemlos mit dem Bug voran rückwärts gerudert werden. Bloss: Wie lade ich die Fracht dann an Land aus? Bingo: Ich drehe das Boot und rudere Heck voran an die Anlegestelle. Sicher nicht vorwärts, auch nicht seitlich, die Kiste ragt ja über die Seitenwände heraus. Man manövriert also das hintere Teil des Boots an die Anlegestelle, und dort kann die Kiste herausgehoben werden, derweil die Ruderin das Boot in Position hält.

Genug Seemannsgarn, kommen wir zur Kunst und damit zum Kunstmuseum und zum 1827 in Basel geborenen Arnold Böcklin. Der malte einst Toteninseln. Auch eine Lebendinsel, die man unbedingt gesehen haben muss, sie hängt derzeit im Kunstmuseum. Bleiben wir bei den Toteninseln. Er malte deren fünf, und in der Urfassung, die in Basel hängt, sehen wir genau das, was ich oben beschrieb: Ein Ruderboot, in dem eine weisse Gestalt steht, vor ihr quer über das Heck ein verhüllter grosser Sarg, wird Heck voran vom sitzenden Ruderer an die Anlegestelle gerudert. Der Ruderer hat bereits gedreht und manövriert das Boot durch die enge Einfahrt. Das sieht man auch an der angedeuteten Wasserspur, die sich in der Fahrrinne hinter dem Boot gebildet hat.

In späteren Versionen steht der Ruderer bereits und guckt nach vorne. Auch die Wasserspuren und das Wasser, das von den Rudern tropft, ist deutlicher gemalt. Das ist schade, denn die Urfassung strahlt Ruhe aus. Aber offenbar wurde Böcklin unter Druck gesetzt. Die Urfassung ist ein stilles Bild, ein ernstes Bild, und doch in warmen Farben. Eine Kopie hing einst bei meinem Vater im Büro, und ich mochte das Bild in seiner grafischen Klarheit, trotz der düsteren Botschaft. Gehen Sie es anschauen, es lohnt sich. Das Kunstmuseum versucht übrigens, alle Versionen der Toteninsel an der Jubiläumsausstellung 2027 zu zeigen, was grossartig wäre.

Nicht Böcklin rudert in die falsche Richtung, sondern die Kunstwelt.

Nun können Kunstverständige offensichtlich nicht rudern. Vielleicht Velofahren, was in Basel eh wichtiger ist, aber lassen wir das. Die bz zum Beispiel schrieb am 4. Juli 2020, das Bild sei ein «Bschiss» und Böcklin sei jedes Mittel recht gewesen, «um seine Kunst theatralisch zu überhöhen». Das Bild sei überbewertet, das Boot fahre «nicht zur Insel», «nicht» kursiv, sondern von ihr weg, denn man rudere ja mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Ich reagierte mit einem Leserbrief, der niemanden interessierte.

Und nun kürzlich wieder: Von einer Sachverständigen des Kunstmuseums wurde mir erneut dieser «Fehler» dargelegt. Ich widersprach, sie bat mich um eine klare Ausführung. Die habe ich nun hiermit erstellt. Und zwar gleich für einen breiteren Kreis, denn zusätzlich hat mich soeben ein italienischer Böcklin-Experte darauf aufmerksam gemacht, dass an den Führungen zur derzeitigen Ausstellung erneut erzählt werde, das Boot sei falsch gemalt, denn es fahre von der Insel weg und nicht zu ihr hin. Tut es nicht, denn es wurde bereits in Vorbereitung zur Löschung der Fracht gedreht.

Nicht Böcklin rudert also in die falsche Richtung, sondern die Kunstwelt. Hoffen wir, dass dies bis zum 200-Jahre-Jubiläum zu Ehren Böcklins anno 2027 endlich begriffen wird. Sonst werden wir im Rahmen der Festivitäten im Rheinhafen Ruderkurse anbieten müssen.

Kolumne: «Alles mit scharf»

Kommentare

Sandra Leis
Journalistin

Vielen Dank für diese längst fällige Klärung!