Jürg Gohl: «Journalisten haben auch einen politischen Auftrag»
Der Kulturpreisträger und frühere Chefredaktor der Volksstimme prägte den Baselbieter Lokaljournalismus über Jahrzehnte. Ein Gespräch über publizistische Verantwortung, fehlende Distanz – und warum er nicht bei der NZZ landete.
Herr Gohl, zu Ihrer Zeit hing in der Redaktion der Volksstimme ein Plakat: «Der Köder muss dem Fisch schmecken – nicht dem Angler.» Was bedeutet dieser Spruch?
Es geht darum, dass wir Journalistinnen und Journalisten uns nicht an unseren eigenen Interessen orientieren sollten, sondern an den Bedürfnissen der Leserinnen und Leser. Der Journalismus muss ihnen dienen – nicht unseren Hobbys.
Halten sich Zeitungen heute genügend an diesen Leitsatz?
Der Journalismus macht in dieser Hinsicht Fortschritte – trotz der Widerwärtigkeiten, die der Beruf gegenwärtig durchmacht. Die Medien sind näher bei den Menschen. Nicht im Sinne davon, dass man an jedem Dorffest ist, sondern in Bezug auf die Interessen, die man abdeckt. Dennoch haben wir als Journalistinnen und Journalisten auch einen politischen Auftrag. Wir sind nicht nur da, um Vergleiche darüber anzustellen, in welchem Café es den besten oder preiswertesten Cappuccino gibt oder welche Mode man in Basel gerade trägt. Das ist zu anbiedernd an den Mainstream.
Was halten Sie von diesem Trend zu Lifestyle-Inhalten?
Das kann gefährlich werden. Wir müssen werten, was wichtig ist – nicht nur, was Aufmerksamkeit bringt. Es geht nicht nur um das, wonach gegoogelt wird, sondern auch darum, was für unsere Demokratie von Bedeutung ist. Wir haben eine Scharnierfunktion: Wir sind die Vorkoster für die Leserin und den Leser und müssen uns trauen, zu gewichten.
Gemeindeversammlungen werden heute kaum mehr journalistisch begleitet, obwohl sie wichtig sind.
Früher haben wir alles abgedeckt, heute müssen wir viel stärker auswählen. Wir müssen journalistisch abwägen, ob sich ein Artikel lohnt, denn das kostet viel Geld. Die Redaktorin oder der Redaktor muss vor einer Gemeindeversammlungen die Traktandenliste studieren und erkennen, ob ein relevantes oder kontroverses Geschäft zu erwarten ist oder nicht. Und auf dieser Grundlage entscheiden, ob man hingeht. Der Wahn nach Vollständigkeit von früher führte, seien wir ehrlich, auch zu langweiligeren Zeitungen.
Geht nicht viel Fachwissen verloren, wenn man nur noch ab und zu präsent ist?
Ja, das ist tatsächlich eine Gefahr. Ausserdem ist eine Gemeindeversammlung für junge Journalistinnen und Journalisten ein politisches Lehrstück, sie lernen die Abläufe und Befindlichkeiten kennen. Man knüpft Kontakte, und nicht zuletzt ist es Werbung für die Zeitung.
Wie bewerten Sie die Qualität im Journalismus?
Ich verteidige grundsätzlich die Qualität des heutigen Journalismus, habe aber schon ein paar Kritikpunkte. Das spezifische Wissen hat abgenommen. Früher hatten wir Leute auf der Redaktion, die für bestimmte Themen brannten – Finanzen, Kirchen, Verkehr. Im Idealfall ist ein Journalist ein Generalist mit ein paar Fachgebieten. Sich eine solche Expertise anzueignen, ist unter dem Spardruck schwierig geworden. Doch der Journalismus ist heute leistungsfähiger. Internet, Mail und Fotosatz sowie zuletzt die Künstliche Intelligenz haben das Tempo erhöht. Zusammen mit dem Abbau im Korrektorat beeinträchtigt dies die Sorgfalt. Die Nordwestschweiz profitiert aber von der Konkurrenzsituation zwischen Basler Zeitung und bz, was die Qualität wiederum fördert.
«Ich hoffe, dass die Medien einen langen Atem haben und die Verleger Lösungen finden, wie man unabhängigen Journalismus erhalten kann.»
Jürg GohlAngesichts von Sparrunden und Stellenabbau – wie lange kann sich eine Zeitung wie die Volksstimme noch halten?
Die Fakten sind bekannt: Die Leserzahlen gehen zurück, junge Leute sind sich gewohnt, dass News gratis sind, und die Inserate wandern auf andere Plattformen ab. Es sind mehrere Punkte, die sich gegen den Journalismus richten. Wir brauchen deshalb neue Finanzierungsformen: Stiftungen, Sponsoring, vielleicht auch staatliche Unterstützung – wie in Skandinavien, wo trotz Subventionen eine grosse Pressefreiheit herrscht. Norwegen liegt weltweit an der Spitze, Finnland und Schweden belegen die Ränge vier und fünf. Ich hoffe, dass die Medien einen langen Atem haben und die Verleger Lösungen finden, wie man unabhängigen Journalismus erhalten kann. Wichtig finde ich auch, dass Zeitungen für Leserinnen und Leser erschwinglich bleiben.
Warum ist es wichtig, dass Zeitungen wie die Volksstimme weiterhin existieren?
Sie tragen zur Information und zur demokratischen Kultur bei. Im Einzugsgebiet der Volksstimme haben wir die höchsten Stimmbeteiligungen, der Kantonsteil ist stark politisiert. Ich bin überzeugt, dass das kein Zufall ist. Die Zeitung schafft Sichtbarkeit, vernetzt Menschen, gibt Anstösse. Sie war mitverantwortlich dafür, dass Politikerinnen wie Ständerätin Maya Graf überhaupt wahrgenommen wurden. Es gab einmal eine Phase, da waren die Präsidien aller grossen Kantonalparteien im Oberbaselbiet: Dieter Spiess war Chef der SVP, Martin Rüegg der SP, Michael Herrmann der FDP und Florence Brenzikofer der Grünen. Sieben der acht Kantonsvertreter in Bundesbern leben oder haben ihre Wurzeln in Liestal und aufwärts: Maya Graf, Eric Nussbaumer, Sandra Sollberger, Thomas de Courten, Samira Marti, Daniela Schneeberger, Florence Brenzikofer. Im Bezirk Sissach lebt aber nur rund ein Achtel der Baselbieter Bevölkerung. Das sind keine Beweise, aber immerhin Indizien.
Früher hatten die grossen Zeitungen Büros in verschiedenen Kantonsteilen, zum Beispiel in Laufen. Würden Sie das Laufental heute als Nachrichtenwüste bezeichnen?
Ja, das kann man so sagen. Verschiedene Politikerinnen und Politiker aus dem Laufental haben sich mir gegenüber beklagt, dass sie die mediale Präsenz vermissen würden. Sie wünschten sich ebenfalls eine Volksstimme.
Jürg Gohl ist 68 Jahre alt. Er ist verheiratet in zweiter Ehe, hat zwei erwachsene Kinder und wohnt in Sissach. Der Journalist ist seit 41 Jahren im Journalismus tätig, 34 davon als Redaktor, und wurde für seine Verdienste kürzlich mit dem Baselbieter Kulturpreis ausgezeichnet. Er arbeitete bei Radio Raurach, der Basler Zeitung und der Basellandschaftlichen Zeitung, bevor er 2011 als Chefredaktor zur Volksstimme kam. Für den Sissacher Medientitel schreibt er auch nach seiner Pensionierung noch regelmässig. Gohl lebt seit seiner späten Jugend mit der chronischen Krankheit Multiple Sklerose (MS).
Was unterscheidet die Volksstimme von anderen Lokalzeitungen wie etwa der Oberbaselbieter Zeitung?
Die Volksstimme wird von einer kleinen, engagierten Redaktion gemacht, die jeden Tag zusammenkommt, Themen diskutiert und politisch relevante Inhalte liefert. Die ObZ und andere Anzeiger konzentrieren sich stärker auf das Vereinsleben und Veranstaltungen – das ist auch wichtig, aber eben ein anderer Ansatz.
Die Volksstimme ist auch eine Talentschmiede und hat schon viele gute Journalisten hervorgebracht. Warum ist das so?
Weil junge Leute bei uns eine Chance bekommen. Wir haben nicht das Budget, um Stars einzukaufen. Wir müssen selbst ausbilden. Und wir haben viele Talente hervorgebracht, die später beim Tages-Anzeiger, bei der NZZ, dem Fernsehen oder anderen Medien gelandet sind. Philipp Loser vom Tagi ist womöglich der meistgelesene Journalist in der Schweiz, Sina Freiermuth ist beim SRF, Katrin Büchenbacher bei der NZZ, Alan Cassidy war USA-Korrespondent beim Tagi. Es braucht Talent, Willen, Eigeninitiative – und ein gutes Bauchgefühl der Chefredaktion. Manchmal merkt man sehr schnell, wer journalistischen Biss hat. Viele schaffen es nicht. Aber wer bei der Volksstimme arbeitet, bekommt die Chance, entdeckt zu werden.
Warum sollte sich heute überhaupt noch jemand für diesen Beruf entscheiden – bei all der Unsicherheit, dem relativ tiefen Lohn, den Überstunden?
Weil es ein faszinierender Beruf ist. Man ist nah dran am Zeitgeschehen und an Orten, an denen Bedeutendes entschieden wird und das Leben blüht, kann aufklären und Missstände benennen. Klar, man bezahlt einen hohen Preis, wird nicht reich, ist oft unterwegs, der Job ist nicht sehr familienfreundlich. Aber man ist mittendrin – das ist unbezahlbar. Man hat Kontakt zu interessanten Personen wie Regierungsräten. Und irgendwo schlummert auch noch der Traum, die Welt ein bisschen besser machen zu können.
«Wer in einem Bericht über eine Gemeindeversammlung Fehler macht, hört am nächsten Tag an der Supermarkt-Kasse einen Kommentar.»
Jürg GohlSie waren zuerst Sport- und später Lokaljournalist. Hat Sie das Nationale oder Internationale nie gereizt?
Doch doch, und als Sportjournalist war ich auch an Olympischen Spielen, an Eishockey-Weltmeisterschaften und anderen internationalen Wettbewerben, etwa in St. Petersburg, in Dubai oder in Salt Lake City. Ich hätte vieles von dieser schönen Welt ohne diesen Job nicht gesehen. Aber ich habe mich immer auch für den Regionalsport eingesetzt. So war ich an einem Abend an einem Eishockey-Spitzenspiel und am nächsten Tag frierend in Zunzgen an einem Erstliga-Match. Einmal bezahlte ich das sogar mit einer Lungenentzündung.
Hatten Sie je Ambitionen, für eine grosse Zeitung wie die NZZ zu schreiben?
Nein. Ich hatte wohl zu viele Zweifel daran, dass ich dafür genügen könnte, und hatte auch gar nie den Anspruch, den ganz grossen Wurf zu machen. Das Regionale war mir immer genug. Und ehrlich gesagt: Ich habe nie bereut, dass ich geblieben bin.
Den Journalismus lernt man im Lokalteil.
Ja, es gibt auch kaum eine andere Möglichkeit, einzusteigen und die Sporen abzuverdienen. Dort lernt man das Handwerk. Wer in einem Bericht über eine Gemeindeversammlung Fehler macht, hört am nächsten Tag an der Supermarkt-Kasse einen Kommentar. Gleichzeitig ist der Flurschaden nicht so gross.
Sie wurden im Juni für Ihre Verdienste im Journalismus mit dem Baselbieter Kulturpreis ausgezeichnet. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Ich war ziemlich perplex und sehr gerührt. Ich war in vielem ein solider Fünfer-Schüler, nie ein Überflieger, und es gibt bessere Schreiber und gescheitere Chefredaktoren als ich. Aber offenbar wurde ich für meine Ideen ausgezeichnet. Ich habe mir immer spezielle Gefässe ausgedacht, spezielle Kolumnen eingeführt, das «Tribünen-Geflüster» (Sport-Klatsch, Anm. d. Red.) erfunden. Einmal veröffentlichte ich eine grössere Geschichte darüber, was eigentlich all die Fussballplatz-Flurnamen bedeuten. Das war schon typisch Gohl. Und einmal publizierte ich ein Interview mit einer jordanischen Prinzessin über Pferdesport. Überhaupt habe ich auch eine Vorliebe für Randthemen. An einem Wochenende spielte Basel gegen St. Gallen, sowohl im Handball als auch im Fussball. Dann haben wir im Vorfeld ein Interview geführt mit einem Metzger, der ursprünglich aus St. Gallen kam und nun in Basel am St. Galler-Ring wohnte und bekannt war für seine Bratwürste. Solche Dinge habe ich immer gerne gemacht.
Sie verfügen über ein ausserordentlich grosses Netzwerk. Hat die Nähe zu den Menschen, im Speziellen zu den politischen Entscheidungsträgern, Ihre journalistische Unabhängigkeit gefährdet?
Die Nähe wurde oft zum Problem, das muss ich ehrlich zugeben. Wenn man jemanden persönlich kennt und mag, lässt man kritische Töne eher weg. Ich habe aber einen Weg gefunden, damit umzugehen, und gab meine Inputs und Recherche-Ideen an Kolleginnen und Kollegen weiter, wenn ich mich befangen fühlte.
Wie kann man im Lokaljournalismus die Distanz wahren?
Das ist schwierig, denn man trifft sich ständig, sitzt plötzlich auch privat mit jemanden an einem Tisch und trinkt einen Kaffee. Dann erklärte ich immer, ob ich nun Privatperson oder Journalist bin. Zudem habe ich mir den Tick angeeignet, demonstrativ meinen Notizblock aufzuschlagen oder zu schliessen.
Waren Sie gewissen Leuten gegenüber manchmal zu wohlgesinnt?
Ich wollte nie aus Gunst einen Artikel schreiben und achtete darauf, dass meine Beiträge immer journalistisch gerechtfertigt sind und den Grundsätzen unseres Berufs genügen. Eine Konzertkritik schrieb ich nur, wenn das Konzert es wert war – nicht, weil ich die Band kannte.
Kürzlich hat in der Volksstimme ein Pfarrer selbst über ein Kirchenfest in Sissach geschrieben. Das geht doch nicht.
Da gebe ich Ihnen recht. Befangene sollten nicht schreiben, zumindest nicht im redaktionellen Teil. Die Volksstimme hat eine Forums-Rubrik für Vereine, dort ist das wiederum zulässig.
«Ich denke schon, dass ich im Beruf meine Krankheit zu einem Teil kompensieren konnte.»
Jürg GohlSie leiden schon seit Ihrem 18. Lebensjahr an Multipler Sklerose. Wie hat das Ihren Berufsalltag beeinflusst?
Zunächst kaum. Der Beruf ist ja nicht körperlich belastend – das war ein Vorteil. Doch irgendwann bekam ich Mühe, im Eisstadion die Pressetribüne zu erreichen. Das hat auch beeinflusst, dass ich vom Sport- in den Lokaljournalismus wechselte. Später wurde die Feinmotorik ein Thema und ich konnte nicht mehr ganz so schnell tippen. Aber in der Volksstimme fand man Lösungen. Ich musste nicht mehr alle Dienste machen, man brachte mir Kaffee mit, die Redaktion kam mir sehr entgegen. Heute merke ich, dass ich schneller müde bin.
Und umgekehrt: Wie wichtig war der Job in Bezug auf Ihre Krankheit?
Das müsste man einen Psychiater fragen, aber ich denke schon, dass ich im Beruf etwas kompensieren konnte. Andere gehen wandern, ich war halt an einem Match.
Sie schreiben immer noch. Was treibt Sie an?
Ich habe den Plausch daran. Ich liebe Sprache, ich liebe Witz – und ich habe Freude, wenn meine Texte gelesen und ich darauf angesprochen werde. Ich pflege meine Sprachkolumne («Sprachpolizei», Anm. d. Red.), die sich humorvoll mit sprachlicher Schlamperei in den Medien auseinandersetzt. Ich habe aber auch kulturelle Interessen, die ich mit dem Schreiben verknüpfen kann. Ich verfasse keine strengen Konzertkritiken für Insider wie andere Feuilleton-Journalisten, die sich gegenseitig zeigen wollen, wer klüger ist. Sondern ich versuche, eine Geschichte darum herum zu erzählen und den Menschen die klassische Musik näherzubringen. Mein Ziel ist es, zu vermitteln und zu unterhalten. Information und Unterhaltung machen Journalismus aus. Jeder Artikel wickelt sich zwischen diesen zwei Elementen ab.
OnlineReports veröffentlicht immer am ersten Samstag des Monats ein grosses Interview. Hier kommen Persönlichkeiten aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Sport zu Wort.
Hier finden Sie die bisher erschienenen Beiträge.
Lesen Sie ausserdem unser Porträt im Rahmen von Gohls Auszeichnung mit dem Kulturpreis.