Misstrauen herrscht

Wem kann man noch trauen in einer Welt, in der gelogen, betrogen und gefaket wird?, fragt sich die Kolumnistin. Und was macht das mit uns?

Falsches Versprechen

Es gibt Gaben, die möchte man zuweilen nicht haben. Ich etwa mein Gespür dafür, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Schon als Vierjährige überführte ich meine Mutter des Betrugs. Ich wollte unbedingt schreiben lernen, und sie sagte, ich solle einfach machen. Sie war in der Küche und hatte keine Zeit. Also sudelte ich etwas Undefinierbares auf ein Blatt und ging wieder in die Küche, zeigte es ihr und fragte, ob dies «Andrea» heisse. Ja, meinte sie. Kann ja nicht sein, kombinierte ich messerscharf und schrieb nochmals etwas auf ein Blatt, bewusst völlig anders. Gleiche Übung: nochmals in die Küche, nochmals «Ja, das heisst Andrea» und Tobsuchtsanfall meinerseits. Worauf sich mein Grossvater erbarmte und mir die ersten sechs Buchstaben meines Schreiblebens beibrachte.

Dieses Bauchgefühl, die Mischung der Inputs, die von einem Menschen kommen, stimmen nicht überein, eine gestörte Harmonie, das Instrument ist verstimmt, die Farbtöne beissen sich, etwas schmerzt. Ich bohre nach, mache mich unbeliebt, kriege die Wahrheit heraus, oder bin still. Beruflich bohre ich, privat schweige ich. Der Mensch lügt nun mal, dass sich die Balken biegen. Die E-Mails lügen, die News, die Bilder im Netz und in den Social Media. Alle, die diese Inhalte erstellen, lügen – oder auch nicht. Man weiss es nicht, fragt sich gar nicht erst, manche teilen unkritisch, empören sich grundlos. Die beiden Kriege, die gerade im Fokus stehen, zeigen, wie es geht, grauenhafte Bilder hüben und drüben. Aber was stimmt, was wirklich ist, weiss keiner. Und da hilft auch kein Bauchgefühl, denn es kommt nur eine Info über einen Kanal, und nur die kann man kritisch prüfen, was reine Kopfarbeit ist.

Und so erhielt ich kürzlich einen Anruf. Ich, Frau in den besten Jahren, pensioniert und folglich Seniorin, Zielgruppe für Betrüge aller Art. Immerhin auch für günstige General-Abos, aber lassen wir das. Der nette Mann mit unbestimmtem Akzent und rollendem «R» (Verdachtsmoment Nummer 1) rief mich an (Verdachtsmoment Nummer 2), er brauche für die Zustellung meiner Bestellung (Verdachtsmoment Nummer 3) meine E-Mail-Adresse (Verdachtsmoment Nummer 4, Gefahrenstufe 1). Er sei von der Paketpost, Cargo oder so ähnlich, DIE Post hat ja allerhand Namen für allerhand Services, wodurch man ihre allerhand Apps auf dem Handy nicht praktisch unter «P» wie «Post» findet. Bei «My Post» weiss man noch nicht einmal, ob das nun Dialekt oder Englisch sein soll, aber lassen wir auch das.

Ich ging bloss mit dem Kopf nach einer inneren Checkliste und nicht nach Bauchgefühl vor.

Bref, der Postfrachtmensch wollte also meine E-Mail-Adresse. Die jeder völlig problemlos googeln kann und die DIE Post sowieso hat, die Lieferung war mir ein paar Tage zuvor bestätigt worden. Aber eben, alles verdächtig, und genau das sagte ich dem Herrn. Er reagierte hilflos. Nein, er habe meine E-Mail-Adresse nicht, und ja, verstehen könne er mich eigentlich schon, bei all dem Fake. Ich sagte, ich würde mich bei der Post melden und dies klären.

Das tat ich dann auch und erfuhr, dass man der Logistik für grössere Fracht tatsächlich bloss die Telefonnummer, aus Datenschutzgründen aber nicht auch die E-Mail-Adresse bekannt gäbe. Die Logistik müsse aber eine Bestätigungsmail mit der genauen Lieferzeit senden. Bei Lichte besehen hätte ich dem Herrn meine E-Mail-Adresse also geben können, zumal die ohnehin jeder findet, der sie braucht.

Fazit: Misstrauen herrscht, ich habe überreagiert. Auch weil ich bloss mit dem Kopf nach einer inneren Checkliste und nicht nach Bauchgefühl vorging. Immerhin habe ich mein Bauchgefühl, und so liess ich kürzlich einen mir völlig unbekannten Zwei-Meter-Muskelmann in die Wohnung, der von mir etwas auf Ricardo gekauft hatte. Kein Problem, sagten die Signale, und so war es auch. Aber dies spüren nicht alle, da braucht es auch Lebenserfahrung.

Was macht dieses Misstrauen mit uns, frage ich mich, dieses Wissen darum, dass potenziell alles gefakt ist, gelogen, manipuliert? Was macht es mit der Jugend? Der wir in der Schule beibringen müssen, wo überall im Netz und sonst im Leben Gefahren lauern, Stichwort Love Scam? Wie viel Misstrauen ist noch gesund? Wo bleiben Urvertrauen und Zuversicht, die lebensnotwendigen Säulen eines glücklichen Lebens? Macht sich verletzbar, wer authentisch bleibt, sich nicht verstellt?

«Was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen», das war einmal. Goethes Faust jedenfalls müsste sich definitiv etwas anderes einfallen lassen.

Kolumne: «Alles mit scharf»

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