Mein Rucksack

Die Kolumnistin und SP-Grossrätin beschreibt mehrere Situationen in ihrer politischen Laufbahn, in denen sie durch sexualisierte Bemerkungen abgewertet wurde. Und sagt, was zu tun ist.

Melanie Nussbaumer, Kolumnistin
(Bild: ZVG)

Neulich rief mich ein befreundeter Vater an. Ich hätte doch Expertise im Thema sexuelle Belästigung. Seine Teenager-Tochter sei schon wieder sexuell angegangen worden, bereits zum dritten Mal. Und er frage sich, was er als Vater falsch gemacht haben könnte. Hat er seine Tochter nicht gut genug auf diese Welt vorbereitet? Wieso passiert ihr das immer wieder?

Seine Fragen haben mich beschäftigt. Einerseits sind sie ein Ausdruck seiner Sorge um sein Kind, was mich berührt. Es ist sicher nicht einfach, wenn die eigene Tochter solche Grenzüberschreitungen erleben muss. Andererseits zeigt sich darin eine sehr verbreitete Annahme: Dass ein Opfer mit einem bestimmten Verhalten eine Belästigung hätte verhindern können.

Die Entscheidung und damit die Verantwortung für den Übergriff liegt aber immer allein bei der Tatperson. Weder bei der Tochter noch bei ihren Eltern oder in der Erziehung. Dazu kommt: Praktisch jede Frau hat bereits eine sexistische Bemerkung, sexuelle Belästigung oder gar einen Übergriff erlebt. Es ist normal.

Auch ich trage einen Rucksack, gefüllt mit solchen Situationen. Ein paar Beispiele aus meinem politischen Leben will ich hier erzählen:

Mein erster Wahlkampf, Fotoshooting für den Wahlkampfflyer. Das Ziel lautet, dass wir auf dem Foto dynamisch wirken. Dafür werden wir jeweils zufällig in Dreier-Gruppen eingeteilt. Ich stehe zwei Männern gegenüber. Wir unterhalten uns, während wir fotografiert werden. Meine Kette verformt sich laufend. Deshalb bitte ich die beiden Männer, es mir zu sagen, falls sie wieder unförmig sitzen sollte. Die Antwort des einen: «Noch so gerne. Wenn wir schon mal die Erlaubnis bekommen, auf deine Brüste zu schauen.» Der andere lacht laut heraus …

Bis heute, knapp ein Jahrzehnt später, kann ich die Situation nicht vergessen. In jenem Moment fühlte ich mich den beiden komplett ausgeliefert. Ich hatte in guter Absicht um etwas Banales gebeten und bekam im Gegenzug eine sexualisierte Bemerkung. Plötzlich war ich nicht mehr auf Augenhöhe, sondern reduziert auf meinen Körper, zum Objekt degradiert. Das Foto blieb für mich deshalb immer belastet, verknüpft mit Scham und Erniedrigung.

Mein dritter Wahlkampf, nun als bisherige Grossrätin. Viele kommentieren mein Foto in jeglichen Varianten. An einem Apéro sogar ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er fände mein Lächeln auf dem Foto künstlich. Ich ignoriere den Kommentar, aber es fährt mir ein, wie mein Erscheinungsbild als öffentliche Person von allen Seiten kommentiert und bewertet wird; übrigens auch von Frauen. Jänu. Runterschlucken und weitermachen.

Am Wochenende bringe ich meine Flyer an ein Fest mit, viele Freund:innen sind da. Ich freue mich, sie zu verteilen. Am Schluss des Abends erzählt mir ein Bekannter, dass er meinen Flyer bei sich zu Hause aufgehängt habe. Denn: «Was soll ich denn tun, wenn meine Freundin nicht da ist?»

Zack – in einer Sekunde von der Politikerin zum sexualisierten Objekt degradiert. Plötzlich war mein Flyer nicht mehr Ausdruck meiner politischen Arbeit, sondern verbunden mit einem Gefühl der Herabwürdigung. Ich konnte das Foto danach nicht mehr anschauen, ohne mich abgewertet und beschämt zu fühlen.

Beide Männer, die diese Sprüche gemacht haben, schätze ich sehr.

Mir hat mal jemand gesagt: «Gell, du wurdest sicher noch nie sexuell belästigt, oder? Du bist ja eine starke Frau.» Die Antwort ist Ihnen wohl nun klar. Aber genau wegen solcher Aussagen sind auch bei mir Selbstzweifel aufgekommen: Wieso habe ich nach der Kette gefragt? Wieso verteile ich Flyer an einem Fest? Habe ich die Reaktion provoziert?

Aber was für die Tochter meines befreundeten Vaters gilt, gilt auch für mich: Ich bin nicht schuld. Nie. Und auch wenn diese Männer mich in diesem Moment abgewertet haben, bin ich deswegen nicht schwach. Die Scham muss die Seite wechseln.

Beide Männer, die diese Sprüche gemacht haben, schätze ich sehr. Diese Gleichzeitigkeit (Ambiguität!) auszuhalten, ist schwierig, aber ehrlich. Und gehört zu jeder Belästigung. Es sind nämlich selten «gruusige Sexisten». Es sind respektierte und lustige Kollegen. Es sind linke, rechte, junge und alte Männer.

Für sie ist es jeweils «nur ein Spruch». Für uns ist es ein Spruch mehr, der unseren Rucksack noch schwerer macht. Diesen Rucksack zu tragen, ist anstrengend. Während sich «die Sprücheklopfer» humorvoll finden und mit einem guten Gefühl nach Hause gehen, müssen wir die Sprüche verarbeiten (oder verdrängen) und immer wieder erklären, warum sie verletzend sind. Im besten Fall sind wir schlagfertig im Moment des Geschehens oder wir konfrontieren die Belästiger im Nachhinein. Auch das ist mühsam und braucht Energie. Die oben beschriebenen Situationen nagen bis heute an mir, obwohl es «nur Sprüche» waren und sie nicht vergleichbar sind mit einem sexualisierten körperlichen Übergriff.

Glauben Sie mir, ich würde äusserst gerne meine Energie für anderes einsetzen. Ich versuche nun die Erlebnisse zumindest konstruktiv zu nutzen. Denn im besten Falle fragen Sie sich jetzt, was zu tun ist. Ich habe vier Ansatzpunkte für Sie:

  1. Belästigen Sie nicht. Machen Sie keine anzüglichen Sprüche.

  2. Educate your sons! Sprechen Sie mit Ihren Söhnen über Konsens. Erklären Sie ihnen, dass ein Nein immer gilt, beim Spielen, beim Berühren, beim Necken und beim Sex. Fördern Sie Empathie, Respekt und Zivilcourage – zu Hause, in Gesprächen, im Alltag.

  3. Schreiten Sie als beobachtende Person ein. Immer. Auch bei Sprüchen, die vielleicht «nicht so gemeint» sind. Seien Sie eine mutige Spassbremse. Ich weiss, das fällt denjenigen schwer, die von sich denken, dass sie humorvoll sind; aber jede unterstützende Reaktion hilft. Das macht unseren Rucksack weniger schwer.

  4. Schenken Sie Ihren Töchtern einen Wen-Do Kurs. Man kann die Belästigungen nicht verhindern, aber man kann lernen, sich zu wehren, um die Last zumindest ein Stück weit erträglicher zu machen.

PS: Falls Sie noch nie belästigt wurden, hilft Ihnen vielleicht dieser Vergleich fürs Verständnis: Stellen Sie sich vor, es wird bei Ihnen zu Hause eingebrochen. Nach dem Einbruch bleiben Ihnen der Aufwand mit Polizei und Versicherungen und die emotionale Unsicherheit im eigenen Daheim. Die Verarbeitung braucht Zeit und Energie. Das nervt. Und stellen Sie sich dann vor, dass jemand sagt: «Die Diebe haben das sicher nicht so gemeint.» Oder falls Sie die Diebe auf frischer Tat erwischen, sagen diese vielleicht: «Ist ja halb so schlimm. Wir haben ja nichts mitgenommen.» Die Verunsicherung, daheim nicht mehr sicher zu sein, die bleibt trotzdem an Ihnen hängen. Meine persönliche Integrität ist in diesem Sinne Ihr Zuhause – und genau wie Sie möchte ich mich sicher fühlen.

Kolumne: «Mit links»

Kommentare

Ueli Keller
Bildungs- und Lebensraumkünstler

Wenn normal nicht normal ist

Einer der Schlüsselsätze dieser Kolumne lautet: «Es ist normal». Vielen nicht bewusst, läuft auch im Hause Schweiz vieles schamlos schief. Eine nicht nur gefühlsmässig perspektivenlos schwierige Situation. Dies vor allem auch dann und deshalb, wenn und weil Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der Wahrheit von Scham und Beschämung nicht ins Auge schauen, und zu Blödsinn, Kränkungen oder gar Verletzungen nicht Nein sagen können und/oder wollen. «Die Grausamkeit ohne Scham wird bald als eine Lebenskunst gelten, als ein Ideal des neuen Jahrhunderts.» (Benjamin Berton)