Der Geist von Courgenay

Der Kolumnist erzählt von seiner Übernachtung im Hôtel de la Gare, das während der Weltkriege eine besondere Rolle spielte.

Innenaufnahme des Hôtel de la Gare im jurassischen Courgenay
(Bild: La Petite Gilberte)

Vor zwei Wochen übernachtete ich im Hôtel de la Gare im jurassischen Courgenay. Meine Frau, mein Sohn und sein Götti machten eine Velotour dorthin. Ich kam mit dem Auto nach. Courgenay hat ungefähr 2500 Einwohner und liegt bei Porrentruy (Pruntrut).

Courgenay wäre ein unauffälliges Dorf wie andere in der Schweiz, stünde es nicht für eine besondere Episode im Ersten Weltkrieg. Als im August 1914 der Krieg ausbrach, kamen Soldaten aus der ganzen Schweiz in die Ajoie, um die Grenze zu sichern. Nahe bei Courgenay stiessen das damals zum Deutschen Reich gehörende Elsass und das schwer befestigte, französische Gebiet um die Garnisonsstadt Belfort aneinander. Die Ausläufer der deutsch-französischen Front, die an der belgischen Kanalküste begann, erreichten beim Pruntruter Zipfel die Schweizer Grenze.

Im Hôtel de la Gare wirteten Gustave und Lucine Montavon mit ihren drei Töchtern. Das Haus gegenüber dem Bahnhof wurde zum Treffpunkt der Soldaten und Offiziere, die im peripheren Jura monatelang Dienst leisteten und unter einer Mischung aus Langeweile, Heimweh, Lagerkoller und Melancholie litten. Bekanntlich verstärken sich solche Gefühle, wenn man aus dem Alltag herausgerissen wird und viel Zeit zum Sinnieren hat. Tobt ein Krieg in der Nähe, kommen existentielle Ängste dazu.

Die beim Ausbrauch des Kriegs erst 18-jährige Wirtstochter Gilberte Montavon hatte offenbar eine besondere Gabe, auf die Anliegen und Sorgen der Soldaten einzugehen und sie aufzumuntern. Das Hôtel de la Gare mit der heiteren Gilberte wurde zu einem Ort der Geborgenheit, der den Krieg und den monotonen Dienst kurzzeitig vergessen liess.

Das gastliche Haus in Courgenay versinnbildlichte den Wert einer eigenständigen Schweiz.

Im Ersten Weltkrieg war die Schweiz emotional tief gespalten. Die Romandie neigte Frankreich zu, während die Deutschschweiz eine Grundsympathie für das deutsche Kaiserreich hegte. Mit General Ulrich Wille stand ein Befürworter des preussischen Drills an der Spitze der Armee. Dieser inneren Zerrissenheit wirkte das gastliche Haus in Courgenay entgegen. Es versinnbildlichte den Wert einer eigenständigen Schweiz, deren Landesteile trotz unterschiedlicher sprachlicher, kultureller und religiöser Prägungen in Not und Gefahr zusammenstanden.

Kein Wunder, dass das Hôtel de la Gare mit Gilberte, die dank eines in der Zwischenkriegszeit zum Volksgut gewordenen Liedes einen legendären Status erlangte, im Zweiten Weltkrieg zum Mythos des nationalen Zusammenhalts wurde. 1941, auf dem Höhepunkt der Raserei der Nazis, deren Armeen fast ganz Europa versklavt hatten und vor Moskau aufmarschierten, kam eine Verfilmung der Episode von Courgenay in die heimischen Kinos. Der Film war ein Meisterstück der geistigen Landesverteidigung. Heute mag er manchen übertrieben patriotisch vorkommen. Doch setzte er wichtige Zeichen. Dem brüllenden Hitler mit seinem perversen Rassenwahn stellte der Film eine aufgeschlossene und warmherzige Frau entgegen, die nicht trennte, abwertete und ausgrenzte, sondern Menschen aus verschiedenen kulturellen und sozialen Milieus mit ihrem zugänglichen Wesen ansprach und zusammenführte.

Was bedeutet Courgenay heute? Zunächst einmal lohnt sich eine Übernachtung im achtsam erneuerten Hôtel de la Gare mit seinen vielen Reminiszenzen an die frühere Zeit. Mit seinem schmucken Speisesaal und der einladenden Bar ist das Haus nicht nur ein Ort für geschichtlich Interessierte, sondern nach wie vor auch ein Treffpunkt für Einheimische.

Gilberte stand nie für einen Hurra-Patriotismus und einen Rückzug auf sich selbst, auch wenn das eine oberflächliche Deutung nahelegen könnte. Sie betrachtete die Vielfalt der Schweiz als nationale Stärke, als Quelle der Kraft, um sich in den Kriegswirren zu behaupten.

Gilberte de Courgenay hatte ein offenes, zuversichtliches, verbindendes Naturell. Ich glaube, dass sie sich diktatorischen Anmassungen, mit denen sich unser Kontinent erneut konfrontiert sieht, entschieden widersetzen würde.

Kolumne: «Schinzel Pommes»

Kommentare

Thomas Eggenberger
07. Juli 2025 um 15:24

Courgenay

Nur schade, dass man nicht mehr mit dem ÖV direkt von Basel aus vors Hotel fahren kann!

Peter Waldner
07. Juli 2025 um 15:57

Danke!

Ganz herzlichen Dank für diesen Artikel. Ich kannte den Film – aber nicht die Geschichte dazu.